Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

I. 
Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
1. Januar. (Preußen.) Der Kaiser und König ernennt den Kriegs- 
minister Grafen Roon statt des Fürsten Bismarck zum Ministerpräsi- 
denten und gibt ihm den General v. Kameke mit dem Titel und Rang 
eines Staatsministers zum Stellvertreter im Kriegsministerium. 
Die betreffenden Cabinetsordres stehen augenscheinlich nicht ganz im Ein- 
klang mit derjenigen vom 21. Dec. 1872, durch welche Fürst Bismarck seinem 
Ansuchen entsprechend vom Ministerpräsidium enthoben und nur noch als Mini- 
ster des Auswärtigen Mitglied des Preuß. Staatsministeriums, mit dem Recht 
sich im Verhinderungsfalle durch den Präsidenten des Reichskanzleramtes v. Del- 
brück vertreten zu lassen, geblieben war. Damals ordnete der König einfach 
an, daß das Präsidium des Staatsministeriums an den „ältesten Minister“ 
übergehe. Jetzt wird Graf Roon nicht bloß als ältester Minister, sondern 
ausdrücklich und persönlich zum Ministerpräsidenten ernannt. Die Zweithei- 
lung des Kriegsministeriums geht thatsächlich dahin, daß General v. Kameke 
die ganze Kriegsverwaltung Preußens übernimmt, Graf Roon aber nur den 
Vorsitz in den Bundesausschüssen für Landheer und Festungen behält, offenbar, 
weil der König wünscht, daß Graf Roon als solcher das mit erheblichen 
Mehrforderungen verbundene Armeeorganisationsgesetz noch durch den Reichs- 
tag bringen möge. Die öffentliche Meinung ist darüber einig, daß dieses 
ganze Arrangement keineswegs den letzten Wünschen des Fürsten Bismarck 
entspreche. Inzwischen gibt ihm der Kaiser davon Kenntniß in einem äußerst 
verbindlichen Handschreiben unter dem wiederholten Ausdrucke seiner Anhäng- 
lichkeit und Dankbarkeit. Die Einrichtung entbehrt jedenfalls der Einfachheit, 
indem fortan in Preußen Bismarck als Minister des Auswärtigen dem 
Grafen Roon als Kriegsminister, im Reiche dagegen umgekehrt Roon als 
Präsident der Ausschüsse für Landheer und Festungen dem Fürsten Bismarck 
als Reichskanzler untergeordnet ist und scheint auch nicht auf die Dauer 
berechnet zu sein, da, wie allgemein bekannt ist, Roon sich aus Gesundheits- 
rücksichten ganz zurückzuziehen wünscht und das Ministerpräsidium nur auf 
den ausdrücklichen und dringenden Wunsch des Kaisers zu übernehmen sich 
entschlossen hat. Daß die Maßregel nicht eine dem Reichskanzler gegenüber 
geradezu feindselige sei, erklärt die offiz. Prov.-Corr. (Eulenburg) ausdrück- 
lich: „Das Ministerium Roon, in welchem Fürst Bismarck als Mitglied 
verbleibt, kann und soll nichts anderes sein, als eine Fortführung des Mini- 
steriums Bismarck in demselben Geist und in derselben Richtung." 
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