450
Die ottomannische Pforte.
Mit dem Abschluß des letzten Anlehens steigert sich die zährliche Zinsenlast
auf beinahe 13½ Millionen Lire; das Budget, 1. März 1872 bis 28. Fe-
bruar 1873, weist etwa 18 1/8 Millionen Lire Staatseinnahmen auf; nehmen
wir für das laufende Jahr 20 Millionen an, so bleibt nach Abzug der für
die Zinsen der Staatsschuld erforderlichen 13/ Millionen Lire eine Summe
von 6⅛ Millionen Lire zur Disposition der Regierung. Für unvorher-
gesehene Fälle (z. B. eine Epidemie, eine Epizootie, theilweise Vernichtung
der Ernten durch Dürre, Heuschrecken, Hagel, der Besuch eines Schah von
Persien, eine Revolution in einer Provinz, oder ähnliches) muß man min-
destens eine Million abrechnen; bleiben 5½ Millionen. Für die Landarmee
sind 4½/ Mill., für die Artillerie 1 Million, für die Marine 1¾ Millionen
erforderlich; diese drei Rubriken erschöpfen schon mehr als das ganze dis-
ponible Budget der Einnahmen; nun ist noch kein einziger Gehalt, von der
Civilliste an bis zum untersten Thürsteher, bezahlt, noch nichts für Unter-
richt, Justiz, öffentliche Arbeiten, Cultus u. s. w. Mit aller denkbaren
Sparsamkeit braucht die Regierung für ihre nothwendigsten Ausgaben 12
Millionen; binnen zwei Jahren wird also wieder eine Anleihe zum Effectiv-
belauf von 12 Millionen nöthig sein, wofür also, nach den bisherigen An-
lehen, eine Nominalsumme von mindestens 20 Millionen und eine weitere
jährliche Belastung des Budgets von 2 Millionen erforderlich wird, so daß
nach 1875 nur noch 3½ Millionen bleiben. Nach dieser sehr einfachen Be-
rechnung wird also binnen 5 bis 6 Jahren das ganze Budget von den
Zinsen der Staatsschulden absorbirt, weitere Auleihen werden nicht mehr
möglich sein — also der Staatsbankerott; und da die Gläubiger alsdann
das ihnen zugesicherte Unterpfand verlangen werden, so ist mit dem finan-
ziellen Bankerott zugleich der politische Bankerott da. Ob bis dahin noch
Zeit bleiben wird, das scheinbar Unvermeidliche abzuwenden — wer weiß
es? Sicher ist nur so viel, daß die Zeit zur Abwendung einer solchen
Katastrophe auf eine unverantwortliche Weise verlottert worden ist; denn
die einzigen Mittel, Hebung des öffentlichen Unterrichts, Vermehrung der
Communicationen und Verbesserung des Justizwesens, sind noch bis auf den
heutigen Tag ein Gräuel in den Augen der leitenden Staatsmänner.
10. Aug. Der Khedive von Aegypten kehrt, nachdem er Alles, was er
26.
gewünscht, erreicht, nach Kairo zurück.
„ Besuch des Schah von Persien in Konstantinopel.
„ (Serbien.) Besuch des jungen Fürsten Milan am Hofe zu
Wien, wo er, wie schon etwas früher die Fürsten von Montenegro
und Rumänien, mit großer Freundlichkeit empfangen wird. Lebhafte
Befriedigung darüber in Serbien, Verstimmung in Konstantinopel.
13. Sept. (Türkei.) Der Pascha von Bosnien erlaubt sich arge Ge-
24.
waltthätigkeiten gegen eine Reihe angesehener Einwohner von Gradisca.
Dieselben flüchten auf österr. Gebiet und wenden sich in einer aus-
führlichen Denkschrift beschwerend an die Vertreter der Mächte.
„ (Türkei.) Die Pforte macht einen neuen Versuch, ihre Sou-
veränetätsrechte gegenüber Rumänien weiter auszudehnen und ihm na-
mentlich das Recht abzusprechen, mit fremden Staaten Verträge abzu-
schließen. Sie richtet deßhalb eine Circulardepesche an ihre Vertreter
im Ausland:
„Sie wissen, daß die unter der Suzeränetät der kaiserlichen Regierung
stehenden Fürstenthümer gewisse Privilegien und Immunitäten genießen, die
hnen durch die Sultane gnädig verliehen wurden. Die Signatarmächte des