Mebersicht der Greignisse des Jahres 1873. 465
„zollt es bereitwillig der Unabhängigkeit aller andern Staaten und
„Völker, der schwachen wie der starken. Das neue Deutschland wie
„es aus der Feuerprobe des gegenwärtigen Krieges hervorgegangen
„ist, wird ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein, weil
„es stark und selbstbewußt genug ist, um sich die Ordnung seiner
„eigenen Angelegenheiten als sein ausschließliches, aber auch ausreichen-
„des und zufriedenstellendes Erbtheil zu bewahren.“
Die Wahrheit und Aufrichtigkeit dieser kaiserlichen Worte findet Th
ihre Bürgschaft in dem lauten Wiederhall aus allen Theilen Deutsch-Ferhärt=
lands und noch mehr in der eigensten Natur und in den durch Jahr= niß zu
hunderte gefestigten Gewohnheiten des deutschen Volkes. Daß ihnene
trotzdem nicht ohne weiteres geglaubt wurde, ist am Ende nur natür-Mächten
lich. Die gewaltige Erhebung des deutschen Volkes, das sich in drei
großen Kriegen binnen weniger Jahre gegen Dänemark, gegen Oester-
reich und gegen Frankreich die Freiheit, sich nach seinen Bedürfnissen
und nach seinem Willen constituiren zu können, hatte erstreiten müssen
und nach einander alle drei zu Boden geschlagen hatte, mußte fast
nothwendig ein allgemeines Mißtrauen gegen Deutschland und nament-
lich gegen das an seine Spitze getretene Preußen wachrufen, wenn
auch in allen drei Kriegen der Anlaß dazu nicht von Deutschland
und nicht von Preußen ausgegangen war, namentlich das letztere in
allen dreien sich vielmehr in einer geradezu zwingenden Nothlage be-
funden hatte. Dazu kam, daß das neue deutsche Reich sich zwar auf
den Trümmern oder wenn man lieber will, auf der gebliebenen Grund-
lage des alten aufgebaut hatte, aber doch nicht als eine bloße Wieder-
aufnahme einer früher behaupteten und allseitig anerkannten Stellung
sich darstellte, sondern etwas entschieden Neues war und sein wollte,
eine Art Emporkömmling, der das Schwergewicht aller europäischen
Dinge plötzlich verrückte und alle anderen Staaten zwang, sich ihre
nunmehrige Stellung zu demselben erst zu suchen. Wie im Privat-
leben, so wird auch im öffentlichen und politischen eine solche Lage
vorerst nur widerwillig ertragen und muß sich erst nach allen Seiten
einleben, bis sie als Thatsache, die nicht mehr zu ändern ist und mit
der gerechnet werden muß und so zu sagen unbewußt gerechnet wird,
anerkannt ist, was sich in der Regel so schnell nicht macht. Die
Lenker des deutschen Reichs gaben und geben sich heute noch dießfalls
auch keiner Selbsttäuschung hin. Der hervorragendste Staatsmann
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