Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

Aebersicht der Greignisse des Jahres 1873. 
aus; glauben Sie doch nicht, daß wir vor solchen Wahrnehmungen 
die Augen verschließen können! Ich will auch in diesem Stadium 
alles confessionell Verletzende vermeiden und erkläre dieß ausdrücklich, 
weil es außerordentlich schwer ist, diese Dinge zu berühren, ohne daß 
einem stets die Volte geschlagen wird: man meine die ganze Insti- 
tution, man meine das Kirchliche und die Kirche überhaupt, wenn man 
von einer einzelnen bestimmten Partei spricht. Es ist dieses Manöver 
besonders leicht bei der äußerlich anscheinenden Geschlossenheit der ka- 
tholischen Kirche. Nur eine sehr genaue Kenntniß und Beobachtung 
der Verhältnisse kann den klaren Nachweis führen, daß hier Unter- 
strömungen sind, die mit der christlichen Kirche gar nichts zu thun 
haben.“ Das erste Amendement der Opposition wurde vom Herren- 
hause mit 88 gegen 70 Stimmen verworfen und dasselbe nahm alle 
4 Gesetze in der Schlußabstimmung ohne Namensaufruf mit entschiedener 
Mehrheit an. Eine kleine Differenz zwischen den Beschlüssen beider 
Häuser wurde vom Abg.-Hause rasch ausgeglichen. Bis zum 9. Mai 
waren alle 4 Gesetze perfect und schon am 11. gl. M. wurden sie 
vom Kaiser sanctionirt, zum deutlichen Zeichen, daß er über diese 
Frage mit seiner Regierung völlig einig ging. 
Die vier Entwürfe waren also preußisches Landesgesetz. Sieht 
man sie genau durch, so war in denselben auch nicht Eine Bestim- 
mung, auch nicht der Schatten einer Bestimmung, welche die Religion 
oder den Glauben berührt hätte. Nach wie vor konnte der katholische 
preußische Staatsunterthan glauben, was er wollte oder was ihm nur 
immer die katholische Kirche zu glauben in alter oder neuer Zeit vor- 
geschrieben haben mochte, die päpstliche Unfehlbarkeit nicht ausgenom- 
men, ohne fürchten zu müssen, darin von der Staatsgewalt oder von 
wem immer auch nur im mindesten behindert oder auch nur behelligt 
zu werden. Ebenso lag in den Gesetzen für den katholischen Priester 
auch nicht das allermindeste Hinderniß, die Heilswahrheiten der katho- 
lischen Kirche zu verkünden und die Sacramente derselben den Gläu- 
bigen zu spenden, wie nur immer er wollte und seine Kirche es ihm 
vorschrieb. Diese beiden Gebiete, das eigentliche Gebiet der Religion 
und der Kirche, waren durch die Gesetze gar nicht berührt. Was 
diese regelten, waren die Beziehungen der Hierarchie und der Priester- 
schaft zum Staat, die überwiegend äußerliche und weltliche Seite der 
Kirche. Und was die Gesetze vorschrieben, war auch gar nicht etwa 
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Die 
Mai- 
gesetze.