Nebersicht der Ereignisse des Lahres 1873.
Bordeaux zusammentrat und die Regierung zutrauensvoll in die Hände des
greisen Thiers legte, das Land vorfand, so hat sicherlich dieser seine schwere
Aufgabe binnen kürzester Zeit glänzend erfüllt und hat das französische
Volk ein nicht minder glänzendes Zeugniß seiner Lebensfähigkeit an
den Tag gelegt, indem es willig die schweren Lasten, die ihm nicht
erspart werden konnten, auf seine Schultern nahm und die ungeheuern
Verluste aller Art durch verdoppelte Arbeit wieder zu ersetzen sich
mühte. Aber damit waren bis Anfang des Jahres 1873 doch nur
die allgemeinsten Grundlagen des Staats überhaupt wieder hergestellt
und es mußte sich nunmehr darum handeln, sich auf diesen Grund-
lagen neu und dauernd einzurichten, mit andern Worten, es mußte
darauf nun ein festes Verfassungsgebäude aufgerichtet werden. Es
war das die zweite, allerdings schwierigere Aufgabe des Herrn Thiers
und seiner Regierung. Bis dahin hatte ihn die Nationalversammlung
entschieden unterstützt, von da an aber war es nicht mehr der Fall.
Herr Thiers selbst gab sich darüber wohl auch niemals den geringsten
Illusionen hin. Die verschiedenen Phasen, welche seit einem Jahr-
hundert, gleich ungeheuern Wogen, eine über die andere stürzend, das
Land nach einander bedeckt, den Boden bis auf die tiefste Tiefe auf-
gewühlt haben und von denen jede ihren Niederschlag auf demselben
zurückgelassen hat, waren alle durch mehr oder minder starke Fractionen
in der Nationalversammlung vertreten; hier standen sich Legitimisten,
Orleanisten, Bonapartisten und Republikaner schroff gegenüber. Herr
Thiers hatte es durchgesetzt, daß die Republik, die man in Bordeaux
thatsächlich vorfand, zunächst wenigstens provisorisch anerkannt und bei-
behalten, daß ihm die ihm übertragene Gewalt eines Präsidenten der
Republik wenigstens nicht von heute auf morgen entzogen und jeden
Augenblick in seinen Händen beliebig so oder so definirt werden konnte.
Aber alles war nur provisorisch. Die Anhänger der Republik als
bleibender Verfassungsform für Frankreich bildeten nur eine Minder-
heit der Nationalversammlung, aber doch eine so starke und durch
Nachwahlen langsam jedoch stetig wachsende, daß die Gegner der-
selben vorerst zusammenhielten und sich begnügten, nur das Princip
der Monarchie als solches hoch zu halten, aber es der Zukunft über-
ließen, ob diese Monarchie schließlich diejenige der Legitimisten mit
dem Grafen von Chambord, oder die der Orleanisten mit dem Grafen
von Paris, oder die der Bonapartisten mit dem eben großjährig ge-
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