Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Nebersicht der Ereignisse des Jahres 1873. 
man hierauf achtungsvoll bei Seite und berieth dagegen des Langen und 
Breiten über ein Gesetz, das die Befugnisse des Präsidenten der NRepublik 
gegenüber der Nationalversammlung regeln, d. h. den Einfluß, den Herr 
Thiers persönlich durch seinen Namen, seine Erfahrung und seine Be- 
redtsamkeit auf dieselbe auszuüben pflegte, möglichst einengen sollte. 
Herr Thiers legte sich aufs Unterhandeln und wollte sich sogar die 
beabsichtigten Einschränkungen seines Einflusses gefallen lassen, setzte es 
aber schließlich doch nur mit Mühe durch, daß dem Antrage wenig- 
stens ein Zusatz beigefügt wurde, der die Nationalversammlung ver- 
pflichtete, die Verfassungsgesetze jedenfalls noch vor ihrem Auseinander- 
gehen zu erledigen. Die Nationalversammlung genehmigte ihrerseits das 
Gesetz mit sammt dem sehr unschuldigen Zusatze. Aber inzwischen war es 
Mitte März geworden und Herr Thiers befand sich nach dem Beschlusse so 
ziemlich in derselben ungewissen Lage wie vorher. Herr Thiers ließ 
indessen nicht ab, sich der Hoffnung hinzugeben, die Rechte durch allerlei 
Concessionen zu besänftigen, um sie schließlich doch noch zu einem, wie 
er meinte, vernünftigen Entschlusse zu vermögen. Allein gerade eine 
dieser Concessionen führte zu Zwischenfällen und diese schließlich zum 
Sturze des Herrn Thiers. In Lyon hatten die Radicalen seit dem 
Sturze Napoleons das Uebergewicht im Gemeinderathe und benützten 
dasselbe, um dem clericalen Schulwesen in der Stadt ein Ende zu 
machen. Da die Regierung nicht dagegen einschritt, auch nicht wohl 
einschreiten konnte, so verlangten die Clericalen der Rechten von der 
Nationalversammlung Abhülfe, indem sie eine Modification der Lyoner 
Gemeindeverfassung verlangten, ähnlich wie es bereits gegen Paris 
ins Werk gesetzt worden war. Die Regierung war schwach genug, 
dazu die Hand zu bieten und die Maßregel wurde mit 393 gegen 
213 Stimmen beschlossen. Allein die Debatte führte zum Sturze des 
Präsidenten der Nationalversammlung, Herrn Grevy, einer der zuver- 
lässigsten Stützen des Hrn. Thiers und eines bisher trotz seiner aus- 
gesprochen republikanischen Ueberzeugungen auch von seinen Gegnern 
hochgeachteten Mannes, der daher immer wieder fast einstimmig zum 
Präsidenten gewählt worden war. In der stürmischen Debatte über 
die Lyonerfrage sah er sich genöthigt, einen der Redner der Rechten 
zur Ordnung zu rufen. Die Rechte wollte sich dieß nicht gefallen 
lassen, worauf Grevy verletzt die Sitzung schloß und seine Entlassung 
forderte. Er wurde zwar wiedergewählt, aber dießmal nur mit ge-