Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

544 
Aebersicht der Ereignisse des Jahres 1873. 
seit 1859, sondern seit 1789 in der Welt geschaffen worden war, 
nicht das leiseste Bedenken getragen haben, die italienische Einheit, so 
viel an ihm lag, womöglich wieder zu Gunsten der früheren legitimen 
Dynastien zu zerschlagen. So viel auch die gegenwärtigen Zustände 
Italiens noch zu wünschen übrig lassen, darüber sind doch Alle einig, 
daß sie den früheren Zuständen Italiens vor 1859, nach dem Herzen 
der Legitimisten und Clericalen, noch hundertmal vorzuziehen sind. 
Besuch Gegen die von Frankreich her möglicher Weise drohende Gefahr gab 
d. Königs 
von Ita- 
es aber nur ein sicheres Mittel, ein enger Anschluß an das mächtige 
lien in deutsche Reich, das allerdings in der Lage war, Italien zu schützen 
Wien u. 
Berlin. und Frankreich im Zaume zu halten. Minghetti sah das so gut ein, 
als alle anderen Italiener, und war rasch entschlossen. Schon im 
April war davon die Rede gewesen, der König werde die Einladung 
des Kaisers von Oesterreich, ihm bei Gelegenheit der großen Welt- 
industrie-Ausstellung in Wien einen Besuch zu machen, annehmen und 
die Reise bis nach Berlin ausdehnen. Damals aber hatte der König 
den Plan wieder aufgegeben, hauptsächlich auch, um den Franzosen 
nicht neuen Anlaß zu Groll gegen Italien darzubieten. Jetzt wurde 
der Plan ernsthaft wieder aufgenommen und erregte allgemeine Be- 
friedigung, namentlich in den der Regierung sonst entschieden nicht 
freundlich gesinnten Kreisen. Die gesammte Presse, die clericale allein 
ausgenommen, billigte den Plan: es war eine ausgesprochene, ener- 
gische Demonstration gegen Frankreich und was damals dort vorging 
und geplant wurde. Mitte September, gerade da die Anstrengungen 
der französischen Monarchisten sich ihrem Zenith zu nähern schienen, 
brach der König mit einem großen Gefolge, in dem sich der Minister- 
präsident und der Minister des Auswärtigen und außerdem mehrere 
Generale befanden, nach Deutschland auf. Auf dem ganzen Wege durch 
Italien wurde er von Ovationen der Bevölkerungen begleitet, die deutlich 
zeigten, wie populär der Schritt war. Er langte am 17. September 
in Wien an; der Kaiser und die Bevölkerung der Hauptstadt nahmen 
ihn mit der größten Zuvorkommenheit auf. Am 20., gerade am 
Jahrestage der Einnahme Roms im Jahre 1870, hielt der öster- 
reichische Kaiser eine glänzende Revue zu Ehren seines italienischen 
Gastes, aber zum größten Aerger des Vaticans ab. Der ganze Be- 
such besiegelte die zwischen Italien und Oesterreich eingetretene Freund- 
schaft und setzte die Thatsache in's hellste Licht, daß Oesterreich allen