Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

570 Nebersicht der Ereignisse des Fahres 1873. 
eintreten müssen, ist so groß und so tiefgreifend, daß dießfalls vorge- 
sorgt werden muß, so weit es wenigstens dem Staate überhaupt 
möglich ist. Unmittelbar helfen kann er freilich nicht, da es ihm 
und auch der preuß. Regierung nicht einfällt, Bischöfe ernennen oder 
Pfarrer einsetzen zu wollen. Das ist Sache der Kirche und ausschließ- 
lich ihre Sache. Dagegen fallen eine Reihe damit zusammenhängen- 
der Interessen, namentlich alle vermögensrechtlichen, vollständig in das 
Gebiet des Staates und muß die Kirche es sich gefallen lassen, wenn 
der Staat die gesammte Verwaltung des Vermögens sowohl der er- 
ledigten Bisthümer als der nicht nach dem Gesetz besetzten Pfarreien 
in seine Hand nimmt, bis sich die Kirche den Gesetzen des Staates 
fügt. Außerdem entschloß sich die preuß. Regierung dazu, dem Land- 
tage die Einführung der obligatorischen Civilehe zu beantragen und 
faßte ferner die Frage in's Auge, ob und wie, wenn die Bischöfe 
sich beharrlich weigerten, Pfarreien nach den Forderungen des Gesetzes 
zu besetzen, den Patronen oder den Gemeindegliedern das Recht ein- 
geräumt werden könne, sich selbst einen Pfarrer zu wählen. 
Allgem. Noch bevor es jedoch dießfalls zu förmlichen Gesetzvorlagen kam, 
kun sollten zu Anfang Novembers in Preußen die allgemeinen Erneuerungs- 
wahleni wahlen der Abgeordneten stattfinden. Selbstverständlich waren sie 
Preußen dießmal von ganz besonderer Bedeutung. Das preußische Volk hatte 
Gelegenheit, sich über die große Tagesfrage auszusprechen, und die 
Antwort war in der That eine vollkommen unzweideutige. Die Re- 
gierung blieb neutral. Sie hatte keinerlei Ursache mehr, die Feudal- 
conservativen, die, von den gewaltigen Ereignissen der letzten Jahre bei 
Seite geschoben, sich den nunmehrigen großen Aufgaben des Staates 
gegenüber nur als ein Hemmschuh ausgewiesen und sogar eine nur 
schwach verhüllte Hinneigung zu den ultramontanen Bestrebungen ver- 
rathen hatten, irgendwie zu unterstützen, und es zeigte sich deutlich, 
wie wenig Einfluß sie im Grunde ohne die Unterstützung der Regie- 
rung besaßen. Sie wurden fast vollständig von der politischen Aera 
weggefegt: nur 6 derselben vermochten noch durchzudringen. Dagegen 
setzten die Ultramontanen, von den Bischöfen durch besondere Hirten- 
briefe und andere Mittel unterstützt, alle Hebel in Bewegung und 
brachten auch wirklich ihre Fraction auf die immerhin sehr ansehnliche 
Zahl von 85 Mitgliedern, ansehnlich an sich, wenn auch immer nur 
eine entschiedene Minorität, die ohne die Unterstützung anderer Frac-
	        
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