Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

has deutsche Reich und feine einzelnen Glieder. 65 
Lesung bereits darthat, in dem Hause geringen, vielleicht keinen Anklang 
gefunden. Bereits früher ist meinerseits hervorgehoben worden, daß in der 
Einschlagung eines anderen Weges, darin bestehend, daß der Wortlaut der 
Verfassungsurkunde selbst eine Aenderung erfahre, ein Differenzpunkt nicht 
gegeben sein würde. Ich bin heute in der Lage, Namens der Staatsregie- 
rung zu erklären, daß sie den auch von Ihrer Commission vorgeschlagenen 
Weg acceptirt. Wenn von einer Seite behauptet worden ist, es rechtfertige 
sich nicht, ehe man übersehe, in welcher Gestalt die Vorlagen angenommen 
würden, zu einer Verfassungsveränderung zu schreiten, so scheint mir das 
nicht begründet. Es wird ja Niemand in Abrede stellen, daß es grundsätz- 
liche, weitgreifende Gesichtspunkte gewesen sind, die in den Vorlagen zum 
Ausdruck gekommen sind. Wer nun der Ueberzeugung ist, daß es Recht sei, 
diesen Gesichtspunkten gemäß die Gesetzgebung im Einzelnen zu entwickeln, 
der wird auch heute bereits in der Lage sein, sich darüber schlüssig zu machen, 
ob der empfohlenen Verfassungsveränderung beizutreten sei. Mir scheint auch 
umgekehrt es vollkommen statthaft, bevor feststeht, ob und welche Verfassungs- 
änderung wirklich eintritt, daß dieses hohe Haus die Vorlage selbst zum 
Gegenstande seiner Berathung mache, vorausgesetzt immer nur, daß die Be- 
rathung einen eventuellen Character habe, Bedeutung nur in der Annahme, 
für den Fall, daß die Verfassungsänderung hinterher wirklich ins Leben tritt, 
Was die Kommission in dem Art. 15 an Aenderungen vorgeschlagen hat, 
ist die principielle Richtigstellung derjenigen Gedanken, die die Staatsregierung 
in dem Art. 15 bereits früher gefunden hat — wenigstens diejenige Staats- 
regierung, der anzugehören ich die Ehre habe. Der Hr. Abg. Reichensperger 
hat das von mir ausgesprochene Wort, es sei der Art. 15 vieldeutig, gestern 
in Abrede genommen. Die Vieldeutigkeit liegt zunächst in den Worten „ihre 
Angelegenheiten“. Die Kirche soll nach Art. 15 berechtigt sein, ihre Ange- 
legenheiten selbständig zu verwalten und zu ordnen. Es ist ja zweifellos, 
daß es eine ganze Reihe von Angelegenheiten gibt, die in der That Ange- 
legenheiten der Kirche sind. Es gibt nun aber ebenso zweifellos eine Reihe 
von Gebieten, auf welchen — und recht weitgehend — Seitens der Kirchen 
behauptet wird: „Das ist noch unsere Angelegenheit", wo aber von der 
anderen Seite das nicht anerkannt wird. Ich meine nun, derselbe Factor, 
der die Kirche in die Möglichkeit gesetzt hat, ihre Angelegenheiten selbständig 
zu ordnen und zu regeln, muß im Streite auch das Recht haben zu be- 
stimmen: „Was sind ihre Angelegenheiten, und wo geht die Grenze?" Und 
der Factor ist die Staatsgesetzgebung, denn die Verfassungsurkunde beruht 
auf der Staatsgesetzgebung. Und das ist auch der Gesichtspunkt gewesen, der 
bei den Verhandlungen über die Verfassungsurkunde von dem Minister 
v. Ladenberg inne gehalten worden ist. Derselbe hat wiederholt hervorge- 
hoben, daß, wo es sich um Angelegenheiten handle, wo andere Gebiete mit 
berührt werden, die Staatsgewalt es sei, die darüber zu wachen habe, daß 
die Berührung nur in rechter Weise stattfinde, und im Verwaltungswege 
und Gesetzgebungswege das Nähere zu bestimmen habe. Der Satz in dem 
Commissionsvorschlage, der dem Staate dieß Recht gewährt, drückt dies aber 
auch gleichzeitig aus, und ich muß es wiederholen, auf den lebhaftesten 
Widerspruch hin, daß, insoweit die Religionsgesellschaften und die Kirchen 
insbesondere im Rechtsleben des Staates stehen, sie die Bedeutung wenn auch 
 
 
 
der höchsten privilegirten und der innerlich bedeutendsten Corporationen, doch 
aber immer nur die Bedeutung von Corporationen haben. Außerdem wir 
durch jene Worte, an die sich die eine Nutzanwendung der Aufsicht anschließt, 
deutlich ausgedrückt, daß die Kirche sich innerhalb des Lebens des Staates 
bewege und nicht über demselben; und weil diese Gesichtspunkte von mir 
vielfach als die rechten bezeichnet worden sind, deßwegen glaube ich, auch 
mich einverstanden erklären zu sollen mit demjenigen, was Ihre Kommission 
bei Art. 15 vorgeschlagen hat. Der Abg. Windthorst meint, man müsse 
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