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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
noch zur Verständigung greifen, es sei der letzte Augenblick. Aber welchen
Boden der Verständigung haben Sie bezeichnen hören? Den Boden der
Praxis bis zum Juni oder Juli 1871. Das ist aber die Praxis, welche
die Regierung zurückweist, eine solche Verständigung heißt nichts weiter als:
es beuge sich die Regierung! Das kann sie nicht. Es ist ein Wort von
unbedingter Herrschsucht der Staatsregierung gefallen. Das Streben, diese
zu befriedigen, soll sie dahin führen, in solche ernste Wege für den Staat
und die Interessen seiner Angehörigen zu treten. Nein! nach hartem Kampf
und ernster Prüfung mit sich selbst und mit Gott ist man diesen Weg ge-
gangen, nicht aus Herrschsucht, sondern aus der Ueberzeugung, die Pflicht
zu thun im Interesse des Staates. Es ist meine Ueberzeugung, wir gelangen
auf diesem Wege zum Frieden. Und warum? Weil der Staat erhalten
muß, was ihm gebührt, weil die Grenzlinien jener großen Corporationen
scharf gezogen werden müssen, und weil ich endlich überzeugt bin, daß dann
die heutigen Klagen über Unterdrückung der Kirche sich als Unwahrheiten
herausstellen werden. Es wird sich zeigen, daß die Kirche sich auch innerhalb
dieser Gesetze bewegen kann, in dem, was ihr gehört, d. h. in der Vervoll-
kommnung des Menschen im Aufblick zu Gott, in der Lehre der Heilswahr-
heit, in der Verwaltung der Heilsmittel. ... Ich werde allen Bestrebungen
der Commission, die ministerielle Willkür abzuschneiden, entgegenkommen,
soweit nur der Nerv des Gesetzes nicht gelähmt wird. In dem Briefwechsel
der Regierung mit dem Bischof von Ermeland war das Schwerste für sie
nicht jener Specialfall, sondern jenes bekannte Wort, welches darauf hin-
weist, daß die Kirche und ihre Organe, die Bischöfe, sich vorbehalten, zu
entscheiden, ob das Staatsgesetz Anspruch machen dürfe, vor dem Kirchen-
gesetz zu gelten. Dieses Wort mußte die Staatsregierung zum ernstesten
Aufmerken auffordern, um so mehr, als es im ernst genommenen Sinn in
die Presse hineingetragen wurde, in jene neulich von mir erwähnten agita-
torischen Versammlungen, auch in jener Allocution vorkommt, die vor einigen
Wochen hier erörtert wurde. Als diese Vorlagen hier gemacht wurden, ver-
nahm man aus der Mitte dieses Hauses das Wort: diesen Vorlagen könne
man nicht folgen als Gesetz und wir haben gehört: die Bischöfe müßten
in's Gefängniß, denn sie dürften diesen Gesetzen nicht folgen. Man sagt
uns freilich in gewissen Blättern in fast maßloser Sprache: „Eine Revolution
wollen wir nicht; aber die Bischöfe seien verpflichtet, zu gebieten, daß kein
Gläubiger in irgend welchem Fall unterlasse, was die Kirche gebietet, und
daß er in keinem Falle etwas thue, was die Kirche verbietet“ — unbeküm-
mert darum, ob im ersten Falle das Staatsgesetz verbietet, und im zweiten
Falle gebietet. Ob das nicht einer Revolutionirung gleichkommt? Man
sagt uns dann ferner, es sei kein Gesetz statthaft gegen das Gesetz Gottes,
und was das Gebot Gottes sei, das habe die Kirche zu bestimmen. Wenn
in dieser Weise gegen die Vorschläge, die von der Staatsregierung als Ge-
setze in Aussicht genommen und die dieß vielleicht in wenigen Monaten sind,
von vornherein Ungehorsam und Widerstand angekündigt wird, wie kann
da die Sache auf einem anderen Wege beigelegt werden, als auf dem Wege,
daß die Staatsregierung dasjenige vollständig feststellt, was ihr gebührt: die
Herrschaft des Gesetzes. Referent Gneist: Diese Gesetze sind nicht kleinlichen
Verhältnissen und Zufällen entsprungen, sie sind Symptome des großen
Streites, welchen seit den Tagen Constantin des Großen die katholische Kirche
immer und überall mit der Staatsgewalt geführt hat, weil sie ihre äußere
Gewalt weiter ausdehnen will, wie jedes andere Kirchensystem. Es ist eine
Phrase, uns zu beschuldigen, daß wir die Omnipotenz des Staates wollten.
Es mag sein, daß Sie den Streit nicht gewollt haben, aber die Verfassung
Ihrer Kirche zwingt Sie dazu. Wenn Sie im Ernst den Frieden wollen,
dann ist die erste Bedingung dazu, daß Sie die Rechte des Staates aner-
kennen und dem Kaiser geben, was des Kaisers ist.