Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
noch zur Verständigung greifen, es sei der letzte Augenblick. Aber welchen 
Boden der Verständigung haben Sie bezeichnen hören? Den Boden der 
Praxis bis zum Juni oder Juli 1871. Das ist aber die Praxis, welche 
die Regierung zurückweist, eine solche Verständigung heißt nichts weiter als: 
es beuge sich die Regierung! Das kann sie nicht. Es ist ein Wort von 
unbedingter Herrschsucht der Staatsregierung gefallen. Das Streben, diese 
zu befriedigen, soll sie dahin führen, in solche ernste Wege für den Staat 
und die Interessen seiner Angehörigen zu treten. Nein! nach hartem Kampf 
und ernster Prüfung mit sich selbst und mit Gott ist man diesen Weg ge- 
gangen, nicht aus Herrschsucht, sondern aus der Ueberzeugung, die Pflicht 
zu thun im Interesse des Staates. Es ist meine Ueberzeugung, wir gelangen 
auf diesem Wege zum Frieden. Und warum? Weil der Staat erhalten 
muß, was ihm gebührt, weil die Grenzlinien jener großen Corporationen 
scharf gezogen werden müssen, und weil ich endlich überzeugt bin, daß dann 
die heutigen Klagen über Unterdrückung der Kirche sich als Unwahrheiten 
herausstellen werden. Es wird sich zeigen, daß die Kirche sich auch innerhalb 
dieser Gesetze bewegen kann, in dem, was ihr gehört, d. h. in der Vervoll- 
kommnung des Menschen im Aufblick zu Gott, in der Lehre der Heilswahr- 
heit, in der Verwaltung der Heilsmittel. ... Ich werde allen Bestrebungen 
der Commission, die ministerielle Willkür abzuschneiden, entgegenkommen, 
soweit nur der Nerv des Gesetzes nicht gelähmt wird. In dem Briefwechsel 
der Regierung mit dem Bischof von Ermeland war das Schwerste für sie 
nicht jener Specialfall, sondern jenes bekannte Wort, welches darauf hin- 
weist, daß die Kirche und ihre Organe, die Bischöfe, sich vorbehalten, zu 
entscheiden, ob das Staatsgesetz Anspruch machen dürfe, vor dem Kirchen- 
gesetz zu gelten. Dieses Wort mußte die Staatsregierung zum ernstesten 
Aufmerken auffordern, um so mehr, als es im ernst genommenen Sinn in 
die Presse hineingetragen wurde, in jene neulich von mir erwähnten agita- 
torischen Versammlungen, auch in jener Allocution vorkommt, die vor einigen 
Wochen hier erörtert wurde. Als diese Vorlagen hier gemacht wurden, ver- 
nahm man aus der Mitte dieses Hauses das Wort: diesen Vorlagen könne 
man nicht folgen als Gesetz und wir haben gehört: die Bischöfe müßten 
in's Gefängniß, denn sie dürften diesen Gesetzen nicht folgen. Man sagt 
uns freilich in gewissen Blättern in fast maßloser Sprache: „Eine Revolution 
wollen wir nicht; aber die Bischöfe seien verpflichtet, zu gebieten, daß kein 
Gläubiger in irgend welchem Fall unterlasse, was die Kirche gebietet, und 
daß er in keinem Falle etwas thue, was die Kirche verbietet“ — unbeküm- 
mert darum, ob im ersten Falle das Staatsgesetz verbietet, und im zweiten 
Falle gebietet. Ob das nicht einer Revolutionirung gleichkommt? Man 
sagt uns dann ferner, es sei kein Gesetz statthaft gegen das Gesetz Gottes, 
und was das Gebot Gottes sei, das habe die Kirche zu bestimmen. Wenn 
in dieser Weise gegen die Vorschläge, die von der Staatsregierung als Ge- 
setze in Aussicht genommen und die dieß vielleicht in wenigen Monaten sind, 
von vornherein Ungehorsam und Widerstand angekündigt wird, wie kann 
da die Sache auf einem anderen Wege beigelegt werden, als auf dem Wege, 
daß die Staatsregierung dasjenige vollständig feststellt, was ihr gebührt: die 
Herrschaft  des Gesetzes. Referent Gneist: Diese Gesetze sind nicht kleinlichen 
Verhältnissen und Zufällen entsprungen, sie sind Symptome des großen 
Streites, welchen seit den Tagen Constantin des Großen die katholische Kirche 
immer und überall mit der Staatsgewalt geführt hat, weil sie ihre äußere 
Gewalt weiter ausdehnen will, wie jedes andere Kirchensystem. Es ist eine 
Phrase, uns zu beschuldigen, daß wir die Omnipotenz des Staates wollten. 
Es mag sein, daß Sie den Streit nicht gewollt haben, aber die Verfassung 
Ihrer Kirche zwingt Sie dazu. Wenn Sie im Ernst den Frieden wollen, 
dann ist die erste Bedingung dazu, daß Sie die Rechte des Staates aner- 
kennen und dem Kaiser geben, was des Kaisers ist.