Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 71 
Waffe für den Augenblick, und sie machen von derselben rückhaltlos Gebrauch. 
Sobald die neue Gesetzgebung trotz des jetzigen Widerstandes zur Geltung 
gelangt sein wird, werden die Oberhirten des katholischen Volkes wohl von 
Neuem ernst mit sich zu Rathe gehen, ob ihre Gewissenspflicht und das 
Interesse der Kirche und der ihrer geistlichen Pflege befohlenen Bevölkerung 
in Wahrheit den absoluten Bruch mit der Staatsgewalt und das Betreten 
revolutionärer Wege gebieten oder gestatten. Die Entschließungen werden 
dann voraussichtlich anders ausfallen, als es nach der jetzigen drohenden 
Sprache scheinen mag. Wäre es aber mit den Drohungen wirklich voller, 
unbedingter Ernst, so müßten die Hüter unseres Staatsrechts darin von 
vornherein eine noch dringendere Mahnung finden, um die unveräußerlichen 
und untheilbaren Rechte der staatlichen Souveränetät gegen jene grundsätzliche 
Auflehnung ein für alle Mal sicher zu stellen. Der Staat kann sich 
in Bezug auf die Souveränetät seiner Gesetzgebung und auf die verbindliche 
Kraft seiner Gesetze keiner anderen Autorität, keiner noch so mächtigen Cor- 
poration beugen; — mit je größerem äußeren oder inneren Anspruche solche 
Versuche hervortreten, desto dringender wird die Staatsgewalt veranlaßt sein, 
ihre alleinige Souveränetät sicher zu stellen. Sie wird dabei freilich 
auch um des Staates selbst willen darauf Bedacht nehmen müssen, ihr gutes 
Gewissen zu wahren; denn mit der rechtlichen Souveränetät trägt sie auch 
die höchste Verantwortung für das Wohl und Gedeihen des gesammten Volkes. 
Sie wird sich deshalb sorgfältig davor hüten, in das eigentliche innere Ge- 
biet der Kirche, in das Gebiet der Gewissensfreiheit, des Glaubenslebens 
und der mit demselben zusammenhängenden kirchlichen Einrichtungen und 
Sitten einzugreifen. ... Von einem der Kirche auferlegten Märtyrerthum 
kann nicht die Rede sein. Die Krone der Märtyrer wird diejenigen schwer- 
lich schmücken, welche sich nicht um des Glaubens willen, sondern zu Gunsten 
der weltlichen Macht und Herrschaft der Kirche gegen die von Gott gesetzte 
Obrigkeit auflehnen möchten. Wenn aus der Verfolgung des Glaubens 
zumeist ein tieferes Glaubensleben erblühete, so haben dagegen die Kämpfe, 
welche durch die geistliche Herrschsucht  heraufbeschworen wurden, 
die Kirche selbst stets geschwächt und zerrüttet. Diese Besorgniß haben die 
deutschen Bischöfe auf dem vaticanischen Concil auch in Bezug auf die jetzigen 
Kämpfe unumwunden ausgesprochen; sie haben gegen das Verfahren der 
Mehrheit des Concils protestirt, „um die Verantwortung für die  unglücklichen 
Folgen vor den Menschen und vor dem furchtbaren Gerichte Gottes von sich 
abzulehnen." Dieselben Bischöfe, welche damals solches Zeugniß abgelegt 
haben, können nicht der Staatsgewalt die Verantwortung für den Kampf 
zuweisen, nachdem sie selber im Voraus verkündet hatten, daß die weltlichen 
Regierungen nicht anders würden handeln können, als es jetzt geschieht. 
Wenn die kirchlichen Oberen ihre jetzigen Ankündigungen verwirklichen sollten, 
so hegt die Regierung die Zuversicht, daß jeder Versuch der Auflehnung gegen 
ein Staatsgesetz an dem gesunden Sinne des Volkes und an der Kraft des 
Staatswesens scheitern werde. Die Regierung täuscht sich darüber nicht, daß 
die Durchführung ihrer jetzigen Aufgabe nicht ohne Kämpfe und Erregungen 
möglich sein werde; sie weiß aber, daß sie, nachdem die beabsichtigten Ge- 
setze in Kraft getreten, ganz andern Boden zur Geltendmachung ihrer Auto- 
rität unter sich haben wird, welcher Thatsache auch die Bischöfe und die 
Wortführer der Ultramontanen sich bei spätern Erwägungen nicht verschließen 
können, so daß deren heutige Ankündigungen für ihre späteren Entschließungen 
nicht absolut maßgebend sein dürften. Das jetzige Werk soll im Sinne der 
Regierung und der Landesvertretung ein Werk des Friedens für die Zukunft 
sein. Daß diese Bedeutung sich erfülle, hofft die Regierung um so mehr, je 
entschiedener sie daran festhält, daß die höchsten sittlichen Aufgaben des 
Staates mit den höchsten wahrhaften Aufgaben der Kirche in tiefer Ueber- 
einstimmung stehen." 
 

	        
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