Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 71
Waffe für den Augenblick, und sie machen von derselben rückhaltlos Gebrauch.
Sobald die neue Gesetzgebung trotz des jetzigen Widerstandes zur Geltung
gelangt sein wird, werden die Oberhirten des katholischen Volkes wohl von
Neuem ernst mit sich zu Rathe gehen, ob ihre Gewissenspflicht und das
Interesse der Kirche und der ihrer geistlichen Pflege befohlenen Bevölkerung
in Wahrheit den absoluten Bruch mit der Staatsgewalt und das Betreten
revolutionärer Wege gebieten oder gestatten. Die Entschließungen werden
dann voraussichtlich anders ausfallen, als es nach der jetzigen drohenden
Sprache scheinen mag. Wäre es aber mit den Drohungen wirklich voller,
unbedingter Ernst, so müßten die Hüter unseres Staatsrechts darin von
vornherein eine noch dringendere Mahnung finden, um die unveräußerlichen
und untheilbaren Rechte der staatlichen Souveränetät gegen jene grundsätzliche
Auflehnung ein für alle Mal sicher zu stellen. Der Staat kann sich
in Bezug auf die Souveränetät seiner Gesetzgebung und auf die verbindliche
Kraft seiner Gesetze keiner anderen Autorität, keiner noch so mächtigen Cor-
poration beugen; — mit je größerem äußeren oder inneren Anspruche solche
Versuche hervortreten, desto dringender wird die Staatsgewalt veranlaßt sein,
ihre alleinige Souveränetät sicher zu stellen. Sie wird dabei freilich
auch um des Staates selbst willen darauf Bedacht nehmen müssen, ihr gutes
Gewissen zu wahren; denn mit der rechtlichen Souveränetät trägt sie auch
die höchste Verantwortung für das Wohl und Gedeihen des gesammten Volkes.
Sie wird sich deshalb sorgfältig davor hüten, in das eigentliche innere Ge-
biet der Kirche, in das Gebiet der Gewissensfreiheit, des Glaubenslebens
und der mit demselben zusammenhängenden kirchlichen Einrichtungen und
Sitten einzugreifen. ... Von einem der Kirche auferlegten Märtyrerthum
kann nicht die Rede sein. Die Krone der Märtyrer wird diejenigen schwer-
lich schmücken, welche sich nicht um des Glaubens willen, sondern zu Gunsten
der weltlichen Macht und Herrschaft der Kirche gegen die von Gott gesetzte
Obrigkeit auflehnen möchten. Wenn aus der Verfolgung des Glaubens
zumeist ein tieferes Glaubensleben erblühete, so haben dagegen die Kämpfe,
welche durch die geistliche Herrschsucht heraufbeschworen wurden,
die Kirche selbst stets geschwächt und zerrüttet. Diese Besorgniß haben die
deutschen Bischöfe auf dem vaticanischen Concil auch in Bezug auf die jetzigen
Kämpfe unumwunden ausgesprochen; sie haben gegen das Verfahren der
Mehrheit des Concils protestirt, „um die Verantwortung für die unglücklichen
Folgen vor den Menschen und vor dem furchtbaren Gerichte Gottes von sich
abzulehnen." Dieselben Bischöfe, welche damals solches Zeugniß abgelegt
haben, können nicht der Staatsgewalt die Verantwortung für den Kampf
zuweisen, nachdem sie selber im Voraus verkündet hatten, daß die weltlichen
Regierungen nicht anders würden handeln können, als es jetzt geschieht.
Wenn die kirchlichen Oberen ihre jetzigen Ankündigungen verwirklichen sollten,
so hegt die Regierung die Zuversicht, daß jeder Versuch der Auflehnung gegen
ein Staatsgesetz an dem gesunden Sinne des Volkes und an der Kraft des
Staatswesens scheitern werde. Die Regierung täuscht sich darüber nicht, daß
die Durchführung ihrer jetzigen Aufgabe nicht ohne Kämpfe und Erregungen
möglich sein werde; sie weiß aber, daß sie, nachdem die beabsichtigten Ge-
setze in Kraft getreten, ganz andern Boden zur Geltendmachung ihrer Auto-
rität unter sich haben wird, welcher Thatsache auch die Bischöfe und die
Wortführer der Ultramontanen sich bei spätern Erwägungen nicht verschließen
können, so daß deren heutige Ankündigungen für ihre späteren Entschließungen
nicht absolut maßgebend sein dürften. Das jetzige Werk soll im Sinne der
Regierung und der Landesvertretung ein Werk des Friedens für die Zukunft
sein. Daß diese Bedeutung sich erfülle, hofft die Regierung um so mehr, je
entschiedener sie daran festhält, daß die höchsten sittlichen Aufgaben des
Staates mit den höchsten wahrhaften Aufgaben der Kirche in tiefer Ueber-
einstimmung stehen."