Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

72 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
7. Febr. (Preußen.) Abg.-Haus: Der poln. Abg. Wiersbinski inter- 
pellirt den Cult= und Unterrichtsminister Falk wegen seiner Verord- 
nung vom 16. Nov. v. J., wonach erstlich der Religionsunterricht in 
den höheren Lehranstalten des Großh. Posen nur deutsch und ferner 
der Unterricht in der polnischen Sprache als obligatorischer Lehrgegen- 
stand nur an dem Mariengymnasium und der Realschule in Posen und 
dem Gymnasium zu Ostrowo ertheilt werde. 
Der Minister gibt über die verfügte Aenderung und die Motive dafür 
folgende Auskunft: Es wurde lebhafte Beschwerde darüber erhoben, daß durch 
die katholischen Religionslehrer der Unterricht im Deutschen auf's Aergste 
vernachlässigt werde. Es wurde darauf hingewiesen, daß ein Lehrer an einem 
Gymnasium, wo der größere Theil der Schüler deutscher Zunge ist, den Re- 
ligionsunterricht nur auf die polnische Sprache beschränkt habe. Ein anderer 
Uebelstand war energisch betont worden, daß nämlich die katholischen Deut- 
schen ihre religiösen Bedürfnisse nur in untergeordneter Weise befriedigen 
können, weil es an Geistlichen fehlt, die fähig sind, die katholische Lehre in 
deutscher Sprache zu verbreiten. Die Regierung in Posen hat mir berichtet, 
daß es in ihrem Bezirke nicht weniger als 39 Geistliche und Schulinspectoren 
gebe, die der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig seien, um eine 
deutsche Predigt zu halten oder eine Schule zu inspiciren. Es geht aus 
diesen Anstalten eine ganze Reihe Gymnasiasten hervor, die sich dem geist- 
lichen Berufe widmen; und da war es wohl einer Erwägung werth, ob 
nicht etwas geschehen soll, um einen Grund für die Befähigung zur künftigen 
Abhaltung deutscher Gottesdienste zu legen. Ich wandte mich zunächst an 
das Provinzial-Schulcollegium, um ein Gutachten einzufordern. Der Reli- 
gionsunterricht wurde an den meisten Gymnasien in deutscher Sprache er- 
theilt, mit aushilfsweiser Anwendung der polnischen Sprache: in polnischer 
Sprache nur in drei Gymnasien. Die Meisten sprachen sich für den Reli- 
gionsunterricht in deutscher Sprache aus, nur zwei Directoren, polnischer 
Nationalität, die Directoren des Mariengymnasiums und der Realschule in 
Posen, für den Religionsunterricht in der Muttersprache. Es ist darauf 
hingewiesen worden, daß der Religionsunterricht auf das Gemüth zu wirken 
habe. Aber dies sollen auch andere Unterrichtsgegenstände thun, z. B. Ge- 
schichte und Literatur. Er darf also auf keiner andern Stufe stehen, als 
diese Gegenstände. Daher wird er in den unteren Klassen in der polnischen 
Sprache ertheilt, in den oberen Klassen, von Tertia aufwärts, in der deut- 
schen Sprache, welche dort die Unterrichtssprache ist. Wo aber die polnische 
Sprache ausschließlich oder zum großen Theile die Unterrichtssprache ist, 
wird auch der Religionsunterricht in derselben ertheilt. Allerdings sei nur 
in den genannten Gymnasien der Unterricht in der polnischen Sprache obli- 
gatorisch; bei allen anderen facultativ. Die deutschen Schüler sollten nicht 
unnöthig belastet werden, die polnischen hätten durch den facultativen Unter- 
richt die Möglichkeit, in ihrer Muttersprache sich auszubilden. 
Dann geht das Haus zur Berathung des Eisenbahnetats über, 
und sofort gestaltet sich die Sitzung zu einer äußerst bewegten und 
fast geradezu dramatischen. Ein Brief des Ministerpräsidenten Roon 
sucht die schweren Anklagen, welche der Abg. Lasker in der Sitzung 
vom 14. Januar gegen den Geh. Nath Wagener wegen Eisenbahn- 
schwindel erhoben hatte, zu entkräften und als völlig ungerechtfertigt 
hinzustellen. Lasker beharrt jedoch auf seiner damaligen Anklage und 
erhärtet sie durch neue Beweismittel. Der Eindruck ist ein ganz ge- 
waltiger. Der Ministerpräsident muß die Behauptungen seines Briefes 

	        
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