Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 73 
zum Theil schon jetzt zurücknehmen. Der Handelsminister steht wie 
vernichtet da. Eine Untersuchung gegen Wagener ist nach allgemeinem 
Eindrucke geradezu unausweichlich geworden. 
Den Gang der Debatte zeichnet ziemlich drastisch folgender unmittelbar 
nach der Sitzung gefertigter Bericht: Das war heute eine Sitzung im Ab- 
geordnetenhause, so bewegt und interessant, wie seit Jahren nicht. Bei Be- 
rathung der Eisenbahnanleihe hatte Lasker den wirklichen geheimen Ober- 
regierungsrath Wagener, den Fürsten Putbus und den Prinzen Biron von 
Kurland des Handels mit Eisenbahnconcessionen beschuldigt und aus diesen 
und anderen Umständen die Unfähigkeit des Handelsministers Grafen Itzen- 
plitz abgeleitet. Darauf hatte die offiziöse Presse Alles in Abrede gestellt 
und den Abgeordneten Lasker persönlich angegriffen, während Prinz Biron 
dem Präsidium ein feierliches Dementi sandte. Heute war das gesammte 
Staatsministerium persönlich anwesend. Vor der Sitzung wurde ein Schrei- 
ben des Präsidenten v. Roon verlesen, welches unter Verdächtigung des Abg. 
Lasker ebenfalls Alles als durch amtliche Untersuchung widerlegt darstellte. 
Die offiziöse Presse hatte so trefflich vorgearbeitet, daß Lasker's Freunde in 
der That besorgten, er habe sich auf ein Gebiet begeben, welches er nicht 
genügend beherrsche. Indessen hatte sich Lasker mehrere Tage lang gegen 
seine Gewohnheit vom Abgeordnetenhause ferngehalten. Alles war auf das 
Aeußerste gespannt auf den Ausgang der Debatte. Die Tribünen waren 
gepreßt voll; in den Hof= und Diplomatenlogen sah man die Aristokratie, 
in den übrigen reservirten Logen die Geheimräthe der verschiedenen Ministerien. 
Die Debatte fing für das Ministerium schon überaus ungünstig damit an, 
daß Roon die Infinuation gegen Lasker, er habe als Rechtsanwalt den 
Aerger einer Firma über ein abschlägig beschiedenes Eisenbahnconcessions- 
gesuch vertreten, förmlich zurücknehmen mußte. Lasker konnte erwidern, daß, 
so lange er Rechtsanwalt sei, er keine Rechtsanwaltsgeschäfte betrieben. Jeder- 
mann weiß, daß Lasker von jeglichem Erwerb, der ihn nur entfernt mit 
seiner parlamentarischen Stellung in Conflict bringen könnte, sich mit über- 
großer Gewissenhaftigkeit fernhält. Die Mittel zu seinem Unterhalt gewinnt 
er als Syndicus des Pfandbrief-Instituts der Stadt Berlin (als Nachfolger 
Twesten's). Sodann schlug die Stimmung vollständig um, als Lasker des 
Prinzen Biron von Kurland neuliches Dementi als falsche Sylbenstecherei 
entlarvte. Allerdings hatte der Prinz für Abtretung seiner Concession nichts 
erhalten; aber lediglich deshalb nicht, weil er von seinen sauberen Genossen 
nachher geprellt wurde. Dem Prinzen waren als Abfindung 100,000 Thaler 
in Stammactien zugesagt worden. Unter lebhaftem Protest des Prinzen 
hatten die Helfershelfer diese Stipulation nachher so ausgelegt, daß ihm nur 
gegen volle Valuta der Betrag zugesichert sei. Da Roon's Schreiben auch 
auf dieses prinzliche Dementi gepocht hatte, machten die anwesenden Staats- 
minister schon jetzt die bedenklichsten Mienen. Indeß es kam noch weit 
schlimmer. Lasker hatte aus den dem Publikum zugänglichen Acten zu den 
Handelsregistern während der letzten Tage alle Manipulationen des Geh. 
Raths Wagener und seiner Consortialen Schuster und Oder aufgedeckt und 
enthüllte nun, indem er sich überall theils auf öffentliche Urkunden, theils 
auf Zeugeneid berief, ein Bild von Schwindel, Betrug und Fälschung, wel- 
ches das gesammte Haus ohne Unterschied der Parteien in die gewaltigste 
Aufregung versetzte. Auch hier waren die Hauptpunkte nur dadurch an's 
Tageslicht gefördert, daß die „Rinaldo-Rinaldini's“, wie sich Lasker aus- 
drückte, unter sich in Streit gerathen waren. Der „erste vortragende Rath 
des Staatsministeriums“ erschien vollständig an den Pranger gestellt, Roon 
mit seinem offenbar von Wagener selbst redigirten Briefe als der Getäuschte 
und Betrogene. Weiter und weiter enthüllte nun Lasker in zweistündiger 
Rede die ganze Geschichte des Systems Strousberg, die Consortiengeschäfte 

	        
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