Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 73
zum Theil schon jetzt zurücknehmen. Der Handelsminister steht wie
vernichtet da. Eine Untersuchung gegen Wagener ist nach allgemeinem
Eindrucke geradezu unausweichlich geworden.
Den Gang der Debatte zeichnet ziemlich drastisch folgender unmittelbar
nach der Sitzung gefertigter Bericht: Das war heute eine Sitzung im Ab-
geordnetenhause, so bewegt und interessant, wie seit Jahren nicht. Bei Be-
rathung der Eisenbahnanleihe hatte Lasker den wirklichen geheimen Ober-
regierungsrath Wagener, den Fürsten Putbus und den Prinzen Biron von
Kurland des Handels mit Eisenbahnconcessionen beschuldigt und aus diesen
und anderen Umständen die Unfähigkeit des Handelsministers Grafen Itzen-
plitz abgeleitet. Darauf hatte die offiziöse Presse Alles in Abrede gestellt
und den Abgeordneten Lasker persönlich angegriffen, während Prinz Biron
dem Präsidium ein feierliches Dementi sandte. Heute war das gesammte
Staatsministerium persönlich anwesend. Vor der Sitzung wurde ein Schrei-
ben des Präsidenten v. Roon verlesen, welches unter Verdächtigung des Abg.
Lasker ebenfalls Alles als durch amtliche Untersuchung widerlegt darstellte.
Die offiziöse Presse hatte so trefflich vorgearbeitet, daß Lasker's Freunde in
der That besorgten, er habe sich auf ein Gebiet begeben, welches er nicht
genügend beherrsche. Indessen hatte sich Lasker mehrere Tage lang gegen
seine Gewohnheit vom Abgeordnetenhause ferngehalten. Alles war auf das
Aeußerste gespannt auf den Ausgang der Debatte. Die Tribünen waren
gepreßt voll; in den Hof= und Diplomatenlogen sah man die Aristokratie,
in den übrigen reservirten Logen die Geheimräthe der verschiedenen Ministerien.
Die Debatte fing für das Ministerium schon überaus ungünstig damit an,
daß Roon die Infinuation gegen Lasker, er habe als Rechtsanwalt den
Aerger einer Firma über ein abschlägig beschiedenes Eisenbahnconcessions-
gesuch vertreten, förmlich zurücknehmen mußte. Lasker konnte erwidern, daß,
so lange er Rechtsanwalt sei, er keine Rechtsanwaltsgeschäfte betrieben. Jeder-
mann weiß, daß Lasker von jeglichem Erwerb, der ihn nur entfernt mit
seiner parlamentarischen Stellung in Conflict bringen könnte, sich mit über-
großer Gewissenhaftigkeit fernhält. Die Mittel zu seinem Unterhalt gewinnt
er als Syndicus des Pfandbrief-Instituts der Stadt Berlin (als Nachfolger
Twesten's). Sodann schlug die Stimmung vollständig um, als Lasker des
Prinzen Biron von Kurland neuliches Dementi als falsche Sylbenstecherei
entlarvte. Allerdings hatte der Prinz für Abtretung seiner Concession nichts
erhalten; aber lediglich deshalb nicht, weil er von seinen sauberen Genossen
nachher geprellt wurde. Dem Prinzen waren als Abfindung 100,000 Thaler
in Stammactien zugesagt worden. Unter lebhaftem Protest des Prinzen
hatten die Helfershelfer diese Stipulation nachher so ausgelegt, daß ihm nur
gegen volle Valuta der Betrag zugesichert sei. Da Roon's Schreiben auch
auf dieses prinzliche Dementi gepocht hatte, machten die anwesenden Staats-
minister schon jetzt die bedenklichsten Mienen. Indeß es kam noch weit
schlimmer. Lasker hatte aus den dem Publikum zugänglichen Acten zu den
Handelsregistern während der letzten Tage alle Manipulationen des Geh.
Raths Wagener und seiner Consortialen Schuster und Oder aufgedeckt und
enthüllte nun, indem er sich überall theils auf öffentliche Urkunden, theils
auf Zeugeneid berief, ein Bild von Schwindel, Betrug und Fälschung, wel-
ches das gesammte Haus ohne Unterschied der Parteien in die gewaltigste
Aufregung versetzte. Auch hier waren die Hauptpunkte nur dadurch an's
Tageslicht gefördert, daß die „Rinaldo-Rinaldini's“, wie sich Lasker aus-
drückte, unter sich in Streit gerathen waren. Der „erste vortragende Rath
des Staatsministeriums“ erschien vollständig an den Pranger gestellt, Roon
mit seinem offenbar von Wagener selbst redigirten Briefe als der Getäuschte
und Betrogene. Weiter und weiter enthüllte nun Lasker in zweistündiger
Rede die ganze Geschichte des Systems Strousberg, die Consortiengeschäfte