86 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
und wegen der Reform des Systems unserer directen Steuern eine Vereini-
gung nicht stattgefunden hat. Da aber jener Gesetzentwurf von der zweiten
Kammer mit großer Mehrheit angenommen, in der ersten Kammer aber nur
„zur Zeit“" abgelehnt worden ist, so spreche ich die zuversichtliche Erwartung
aus, daß bei Wiedervorlegung dieses Gesetzentwurfs auf dem nächsten Land-
tag ein anderer meinen Absichten entsprechender Erfolg zu erzielen sein werde.
In Bezug auf die Steuerreform aber gereicht es mir zur Befriedigung, daß
noch im letzten Augenblicke sich beide Kammern wenigstens zu einem von
meiner Regierung vorgeschlagenen Antrage vereinigt haben, auf Grund dessen
es möglich sein wird, neue Gesetzentwürfe auszuarbeiten.
10.—11. März. (Preußen.) Herrenhaus: Debatte über die Modifi-
cation der Art. 15 und 18 der Verfassung in Folge der kirchen-
politischen Gesetze. Fürst Bismarck tritt entschieden für die Ver-
fassungsveränderung ein; in seiner Rede bricht er offen mit der sog.
conservativen Partei und beleuchtet den Kampf zwischen Staat und
Kirche als eine reine Machtfrage. „Im Reiche dieser Welt gebührt
dem Staate das Vorrecht und der Vortritt.“ Der gew. Conflicts-
minister Graf zur Lippe meint dagegen, daß es Fürst Bismarck nicht
verstanden habe, die conservative Partei zu führen, daß die Kirche
über dem Staate stehe, weil sie höhere ideale Zwecke sich gesetzt habe,
während der Staat den Realismus repräsentire und fürchtet, daß
„wir uns mit dieser Verfassungsveränderung auf dem Wege der Revo-
lution befinden.“ Bei der Abstimmung wird die Verfassungsverände-
rung mit 93 gegen 63 Stimmen angenommen.
Fürst Bismarck: Der Herr Vorredner hat sich darüber beklagt, daß
der Liberalismus — ich will der Kürze wegen den Ausdruck gebrauchen
— in den letzten Jahren Fortschritte gemacht habe. Ja, m. H., ich habe
Ihnen ja im vorigen Jahre bei einer analogen Discussion vorhergesagt, daß
es wahrscheinlich der Fall sein werde. Es ist auch möglich, daß er noch
mehr Fortschritte macht. Woran liegt das? Nun wesentlich doch in der
Desorganisation und dem Gegengewichte der conservativen Partei!
Wesentlich doch darin, daß die Regierung in den Voraussetzungen, daß die
conservative Partei ihr beistimmen werde, sich getäuscht hat! Diese Ent-
täuschung, die bei den Verhandlungen über das Schulaufsichtsgesetz hervor-
trat, ja nothwendiger Weise auf die Gesammtentwicklung unseres Staats-
wesens nachwirken. Damals hat die conservative Partei, von der die Regie-
rung glaubte in ihrem Vertrauen zu stehen, in einer hochpolitischen Frage
ein Mißtrauensvotum gegeben, und ist das Vertrauen einmal zerstört, so
kommt es so rasch nicht wieder. Darauf ist die conservative Partei, geführt
von gutmeinenden Führern, in sich zur Zersetzung gekommen. Sie ist in
Verhandlungen, denen ich nicht beigewohnt habe, dahin gekommen, daß das
Haus seine eigenen Beschlüsse cassirt und die Regierung gewissermaßen in
eine Sackgasse gedrängt hat. Diejenigen, von denen die Krone, oder ich will
sagen, das Ministerium Sr. Majestät, glaubte auf Unterstützung bei der
Entwicklung des staatlichen Gedankens vorzugsweise rechnen zu können, haben
diese Unterstützung nicht nur nicht gewährt, sondern in einer Form versagt,
daß die Regierung nicht mehr darauf rechnen konnte. Wie wollen Sie des-
halb die Regierung und ihre Vorlagen anklagen? Wir leben nicht mehr in
einer Verfassung, in welcher wir ohne Rücksicht auf die verfassungsmäßige
Gestalt des Landes unser Ministerium wählen könnten. Sie haben wesent-
lich dazu beigetragen, mich, der ich glaubte, die Geschäfte an der Spitze einer
conservativen Partei von einiger Bedeutung und Gewichtigkeit führen zu