Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 87 
können, herauszudrängen aus dem Ministerium. Die Voraussetzungen, unter 
denen ich glaubte, an der Spitze des Ministeriums bleiben zu können, haben 
Sie zerstören gemacht. Beklagen Sie Sich also nicht über die Dinge, die 
ein wesentlicher Theil von Ihnen und in der conservativen Partei des anderen 
Hauses meiner Ueberzeugung nach wesentlich verschuldet hat. Der Vorredner 
hat ferner dieselbe Bahn betreten, die im anderen Hause von den Gegnern 
der Vorlage betreten worden ist, nämlich diesen Vorlagen einen confessionellen, 
ich möchte sagen, kirchlichen Charakter zu geben. Die Frage, vor der wir 
uns befinden, wird gefälscht, und das Licht, in dem sie uns gezeigt wird, 
ist ein falsches, wenn man sie als eine kirchliche betrachtet. Sie ist eine 
wesentlich politische. Es handelt sich hier nicht um den Kampf von 
Glauben und Unglauben, sondern um einen uralten Machtstreit, um 
einen Machtstreit, der so alt ist wie das Menschengeschlecht — um den 
Streit zwischen König= und Priesterthum, einen Machtstreit, der viel älter 
ist als die Erscheinung unseres Erlösers in dieser Welt, um einen Machtstreit, 
der aus der deutschen Geschichte des Mittelalters bis zur Entwicklung des 
Deutschen Reiches sich entwickelt hat und durch die Kämpfe des Papstes mit 
dem Kaiser, die im Mittelalter einen Abschluß damit fanden, daß der letzte 
Vertreter des erlauchten schwäbischen Kaiserstammes unter dem Beile eines 
französischen Eroberers, der mit dem Papste verbündet war, auf 
dem Schaffot starb. Wir sind analogen Verhältnissen sehr nahe 
gerückt. Wenn der französische Eroberungskrieg, dessen Ausbruch mit der 
Publication der vaticanischen Beschlüsse coincidirte, ein erfolgreicher war, 
dann weiß ich nicht, ob man nicht auch auf unserem kirchlichen Gebiete in 
Deutschland den Frieden wesentlich zu erzielen haben würde. Aehnliche Fälle 
haben vorgelegen vor dem Kriege mit Oesterreich, und vor Olmütz, wo dieses 
selbe Bündniß bereits bestand. Es ist meines Erachtens eine ganz falsche 
Auffassung der Politik und Geschichte, wenn man Se. Heiligkeit den Papst 
ganz ausschließlich als Vertreter einer Confession, oder als Vertreter der 
katholischen Kirche oder des Kirchenthums überhaupt betrachtet. Das Papst- 
thum ist eine politische Macht zu jeder Zeit gewesen, die mit größter 
Entschiedenheit und mit größtem Erfolge in die Verhältnisse dieser Welt ein- 
gegriffen hat, die diese Eingriffe erstrebt und zu ihrem Programm gemacht 
hat. Dieses Programm ist bekannt. Das, was das Papstthum ununter- 
brochen vorschreibt, ist die Unterwerfung des Staates unter die Kirche, ist, 
einen eminent politischen Zweck anzustreben, ein Streben, welches so alt ist 
wie die Menschheit, denn so lange es Menschen gibt, hat es auch — seien 
es Laien-, seien es wirkliche — Priester gegeben, welche die Behauptung 
erhoben, daß ihnen das Wesen Gottes genauer bekannt sei, als ihren Mit- 
menschen, und daß sie daher die Interessen ihrer Mitmenschen am besten 
vertreten könnten, und daß diese Behauptung das Fundament der pädpstlichen 
Ansprüche und der päpstlichen Herrschaft ist, ist ja bekannt. Ich brauche 
an die Hunderte von Actenstücken, die dafür Zeugniß geben, nicht zu erinnern. 
Der Kampf des Priesterthums mit dem Königthum, in diesem Falle des 
Papstthums mit dem deutschen Kaiser, wie wir es im Mittelalter gesehen 
hatten, ist zu beurtheilen wie jeder andere Kampf mit heftigen Schlägen, 
Haltepunkten und Waffenstillständen. ... In den Verfassungsparagraphen, 
die uns gegenwärtig beschäftigen, ist der modus vivendi eines Waffen- 
stillstandes gefunden, der geschlossen wurde zu einer Zeit, wo der Staat 
sich hülfsbedürftig fühlte, und glaubte, die Hülfe bei der katholischen Kirche, 
wenigstens theilweise, zu finden. Das war wahrscheinlich der Grund für 
die Erscheinung, daß in der National-Versammlung von 1848 alle Geistlichen 
der überwiegend katholischen Bevölkerung — ich will nicht sagen, überwiegend 
royalistischen — mit freudigen Hoffnungen für das Papstthum und König- 
thum erfüllt waren. Unter diesem Eindrucke hat man damals einen Com- 
promiß geschlossen in dem Machtstreit zwischen der weltlichen und geistlichen