Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
Gewalt, und wie das Papstthum sich in weiterer Consequenz gezeigt hat, 
ist bekannt. Nicht etwa die beruhigende Einwirkung dieser Geistlichen auf 
ihre Wähler, sondern das Ministerium Brandenburg, die königliche Armee 
war es, welche die Ordnung wieder herstellte. Der Staat war doch schließ- 
lich genöthigt, sich selber zu helfen. Der Schutz, den sie den Königen ge- 
währt haben, war nicht ausreichend; aber es war eben ein modus vivendi, 
unter dem wir eine Anzahl Jahre in einem freundlichen Verhältnisse 
gelebt haben. Allerdings war dieser modus vivendi doch nur durch eine 
ununterbrochene Nachgiebigkeit des Staates erkauft, indem er die Wahrneh- 
mung der Rechte der katholischen Kirche ganz rückhaltlos in die Hand einer 
Behörde gelegt hatte, die zwar zur Wahrnehmung der Rechte Preußens gegen- 
über der römischen Herrschaft eingesetzt worden, die aber schließlich eine Be- 
hörde geworden war, welche die Interessen des Papstthums zunächst im Auge 
hatte; ich meine natürlich die katholische Abtheilung des Cultus-Ministeriums. 
Wer die Dinge etwas näher gekannt hat, der hat wohl schon, wie auch ich, 
sich häufig der Besorgniß hingegeben, daß dieser Friede nicht von Dauer 
sein wird. Allein bei längerer Abneigung gegen jeden Kampf und Streit 
habe ich dann diesen Frieden mit allen seinen Nachtheilen dem Kampfe vor- 
gezogen und habe meinerseits dem Kampfe entsagt, wenn von anderer Seite 
nicht zum Kampfe gedrängt wurde. Ja, es hat vielleicht kaum einen Moment 
gegeben, wo man, abgesehen von allen übrigen Folgen, die Regierung mehr 
geneigt gesehen hätte zum Frieden mit der römischen Curie, als gerade am 
Schluß des französischen Krieges. Es sind hierüber im anderen Hause 
Unwahrheiten behauptet worden. Jedem, der mit uns in Frankreich gewesen 
ist, ist bekannt, daß uns während des ganzen Krieges Eines verstimmte, das 
war die Haltung des Königs von Italien, bei dem nach unserer Ansicht die 
Liebe zu dem französischen Volke stärker war als die Wahrnehmung der 
Interessen seines Landes. Die Italiener hätten mit uns gemeinsam ihre 
Unabhängigkeit gegen Frankreich vertheidigen müssen; aber es war eine sehr 
auffallende Erscheinung, daß damals in dieser verzweifelten Lage uns that- 
sächlich italienische Truppen gegenüberstanden, was, wie wir glaubten, mit 
mehr Nachdruck hätte verhindert werden können. Kurz, es war eine offen- 
kundige Verstimmung zwischen der italienischen und deutschen Politik in 
Europa zu Tage getreten; wir waren also weit entfernt, aus irgend einer 
Vorliebe für Italien in unserer inneren Politik etwas gethan zu haben. 
Als ich mich noch in Versailles befand, überraschte es mich einiger Massen, 
daß an die katholischen Mitglieder der parlamentarischen Körperschaft eine 
Aufforderung erging, sich darüber umgehend gegen Bischof Ketteler zu er- 
klären, ob sie einer katholischen Fraction beizutreten entschlossen seien, und 
ob sie sich dazu verstehen wollten, bei Angelegenheiten der innern Reichs- 
politik dafür zu stimmen und darauf hinzudrängen, daß diese Paragraphen, 
um die es sich heute handelt, in die Reichsverfassung hineingebracht werden. 
Mich erschreckte dieses Programm damals noch nicht so sehr, um so weniger, 
als ich wußte, von wem es ausging; von einem hochgestellten Kirchenfürsten, 
welcher die Aufgabe hat, nach dem Programm der päßstlichen Politik zu 
wirken; der eben darin seine Aufgabe erfüllt hat, und es war außerdem von 
einem Mitgliede der Centrumspartei, dem früheren preußischen Bundestags- 
gesandten Herrn v. Savigny, diese Bewegung vorzugsweise eingeleitet, von 
dem ich nicht glaubte, daß sein Einfluß sich wesentlich gegen die Regierung 
richten würde. Ich führe nur die Gründe an, warum ich der Bewegung 
damals diese Bedeutung noch nicht beilegte, und daß ich nach Deutschland 
zurückgekommen war mit der Ueberzeugung, es ließe sich auch mit dieser 
Partei und ihren Bestrebungen leben. Als ich nun hieher kam, sah ich 
allerdings, wie stark die Organisation dieser Partei der kämpfenden Kirche 
gegen den Staat inzwischen geworden war, und ich sah die Fortschritte der 
katholischen Abtheilung im Cultus-Ministerium auf dem Gebiete der Be- 

	        
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