Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zwanzigster Jahrgang. 1879. (20)

610 Uebersichl der polilischen Enlwicklung des Jahres 1879. 
für dieselbe. Die Negierung, wenn sie vermittelnd wirklich über 
oder doch zwischen den beiden Parteien stehen wollte, hätte ohne 
Zweifel besser gethan, wenn sie die Adressen als Interna der beiden 
Häuser angesehen und sich zunächst schweigend und zuwartend ver- 
halten hätte, bis sie mit eigenen Vorlagen hervortreten konnte. So 
sah man zum Voraus, auf welche Seite sie neige: mit Leuten, wie Graf 
Hohenwart und Graf Clam Martinis ist aber kein Pack zu schließen, 
sie geben dem Ministerium den kleinen Finger, um die ganze Hand 
zu ergreifen und die Regierung vielleicht nur allmälig, aber doch 
unaushaltsam in eine Bahn zu leiten, die für Oesterreich verhängniß- 
voll sein muß. Die Verfassungspartei hatte Ursache, dem Grafen 
Taaffe fortan ihr Vertrauen zu versagen und das äußerste Miß- 
trauen entgegen zu setzen. Nur hätte sie selber keine Fehler machen 
sollen, Fehler, die das Ministerium noch mehr nach rechts treiben 
mußten. Ein Fehler aber war es, daß sie der ersien Vorlage, welche 
dasselbe einbrachte und die auf eine Verlängerung des Wehrgesetzes 
und des gegenwärtigen Kriegsstandes der Armee mit 800,000 Mann 
bis zum Schlusse des Jahres 1889 ging, von vorneherein ihre Zu- 
stimmung versagte. Wohl lastet das ungeheure. Militärbudget schwer 
auf Oesterreich, wie es schwer auf Deutschland lastet, auf beiden 
schwerer als auf irgend einer andern der europäischen Großmächte, 
aber es ist eine Consequenz der ganzen unsicheren Lage der europä- 
ischen Dinge, die nach wie vor der neuen Allianz mit Deutschland 
eine unsichere geblieben war: die Last mußte für einmal noch ge- 
tragen werden. Auch ein der Verfassungspartei angehöriges Mini- 
sterium hätte sich der Vorlage nicht entziehen können. Sie wurde 
denn auch von dem in seiner Mehrheit doch verfassungstreuen Oberhaus 
ohne Anstand einstimmig votirt. Im Abgeordnetenhause war dagegen 
von Anfang an nur die föderalistische Rechte bereit, sie zu geneh- 
migen, aber da sie eine Zweidrittelmehrheit erforderte, so lag die 
Entscheidung in der Hand der Verfassungspartei. Zweimal ver- 
weigerte sie einmüthig ihre Zustimmung und erst im letzten Augen- 
blick ging ihr rechter Flügel zur Regierung über und konnte das 
Gesetz durchgebracht werden. Es ist natürlich, daß dieser Vorgang 
die Regierung gegen die Verfassungspartei reizte und neuerdings der 
föderalistischen Rechten zutrieb. Schon sah man mit Sicherheit vor- 
aus, daß das Ministerium Taaffe entweder werde zurücktreten oder 
aber der föderalistischen Partei sich ganz in die Arme werde werfen 
müssen d. h. in erster Linie den Forderungen der Czechen in dieser
	        
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