Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dritter Jahrgang. 1887. (28)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar.) 3 
evangelische Kirche und mit ihr unser deutsches Vaterland sind von schweren 
Gefahren bedroht. Durch den sogenannten Kulturkampf und die Art seiner 
Beilegung sehen wir die Macht des Romanismus aufs höchste gesteigert. 
Rührig und mit zäher Beharrlichkeit, unter Benutzung aller dem deutschen 
Wesen entgegenwirkenden Strömungen, verfolgt dieser seine Ziele. Die Zu- 
geständnisse, welche er den deutschen Regierungen abgerungen hat, bieten ihm 
nur neue Mittel des Angriffs. Auch die größere Mäßigung und die Fried- 
fertigkeit, welche er jetzt zur Schau trägt, dienen ihm zur Gewinnung wei- 
terer Vorteile. Die größten Einbußen hat der Protestantismus jedesmal 
dann erlitten, wenn die Hierarchie sich auf den Friedensfuß mit der Staats- 
gewalt zu setzen wußte. Wir fürchten den Feind nicht. Der Herr Jesus 
Christus, das alleinige Haupt der Kirche, sitzt im Regiment. Sein Wort 
der frei und selig machenden Wahrheit ist uns Schwert und Schild, und 
unser Glaube an ihn ist der Sieg, der die Welt überwunden hat! Wir 
wissen auch wohl: um den drohenden Gefahren zu begegnen, kommt es in 
erster Linie darauf an, daß jeder Bekenner des Evangeliums in seiner Weise 
und nach seinem Berufe sich die Pflege und Verteidigung evangelischen Glau- 
bens und Lebens angelegen sein läßt. Was in solcher Weise teils zum Auf- 
bau, teils zur Abwehr von einzelnen Männern, welche die Waffen des 
Geistes zu führen wissen, und von Vereinen bisher schon geschehen ist, achten 
wir hoch. Aber es hieße die Gefahr unterschätzen und unsere Pflicht ver- 
kennen, wenn wir meinten, es sei damit genug gethan. Der machtvollen 
Einheit Roms steht die deutsch-evangelische Christenheit in trauriger Zer- 
rissenheit gegenüber. Die Landeskirchen, in welche sie zerfällt, sind durch ein 
so loses Band verknüpft und im übrigen so sehr gegeneinander abgeschlossen, 
daß das evangelische Gemeinbewußtsein verkümmert. Noch viel verderblicher 
ist der Parteihader, welcher die besten Kräfte verzehrt und eine gedeihliche 
positive Entwicklung des deutschen Protestantismus lähmt. Während wir 
uns über innerkirchliche Fragen entzweien, schreitet der Feind, der uns zu 
vernichten strebt, unaufhaltsam vor. Dazu hat er in unserm eignen Lager 
gefährliche Bundesgenossen. Die in vielen und einflußreichen Kreisen ver- 
breiteten falschen Paritäts- und Toleranzbegriffe leisten ihm willkommene 
Hilfe, und der Materialismus, in welchen ganze Schichten unseres Volkes 
versunken sind, nicht minder aber der religiöse Indifferentismus bahnen ihm 
den Weg zur Herrschaft. Solch eine Lage erheischt große Ziele und um- 
fassende Mittel! Alle, welche ein Herz für unsere Kirche haben, alle, welche 
von der Uberzeugung durchdrungen sind, daß allein die Treue gegen das 
göttliche Wort und der endliche Sieg der evangelischen Wahrheit unser Volk 
zur Erfüllung seines weltgeschichtlichen Berufes auch fernerhin befähigen 
kann, müssen sich zusammenschließen zu gemeinsamer Arbeit und gemeinsamem 
Kampf! Dies erwägend und in diesem Geiste haben bereits am 5. Oktober 
v. J. evangelische Männer aus allen Teilen Deutschlands, von mannigfal- 
tiger Berufsstellung und aus verschiedenen kirchenpolitischen Parteigruppen, 
einander die Hande gereicht, um ihre Glaubensgenossen aufzurufen zu einem 
evangelischen Bunde, dessen Zweck die Wahrung der deutsch-protestantischen 
Interessen ist. Das Programm dieses Bundes ist folgendes: Der enangelische  
Bund bekennt sich zu Jesu Christo, dem eingebornen Sohn Gottes, als dem 
alleinigen Mittler des Heils, und zu den Grundsätzen der Reformation. Die 
Aufgabe des Bundes ist eine zweiseitige. Er will im Kampfe gegen die 
wachsende Macht Roms die evangelischen Interessen auf allen Gebieten wah- 
ren, der Beeinträchtigung derselben durch Wort und Schrift entgegentreten, 
dagegen allen Bestrebungen wahrer Katholizität und christlicher Freiheit im 
Schoße der katholischen Kirche die Hand reichen. Er will anderseits gegen- 
über dem Indifferentismus und Materialismus der Zeit das christlich-evan- 
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