Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar.) 3
evangelische Kirche und mit ihr unser deutsches Vaterland sind von schweren
Gefahren bedroht. Durch den sogenannten Kulturkampf und die Art seiner
Beilegung sehen wir die Macht des Romanismus aufs höchste gesteigert.
Rührig und mit zäher Beharrlichkeit, unter Benutzung aller dem deutschen
Wesen entgegenwirkenden Strömungen, verfolgt dieser seine Ziele. Die Zu-
geständnisse, welche er den deutschen Regierungen abgerungen hat, bieten ihm
nur neue Mittel des Angriffs. Auch die größere Mäßigung und die Fried-
fertigkeit, welche er jetzt zur Schau trägt, dienen ihm zur Gewinnung wei-
terer Vorteile. Die größten Einbußen hat der Protestantismus jedesmal
dann erlitten, wenn die Hierarchie sich auf den Friedensfuß mit der Staats-
gewalt zu setzen wußte. Wir fürchten den Feind nicht. Der Herr Jesus
Christus, das alleinige Haupt der Kirche, sitzt im Regiment. Sein Wort
der frei und selig machenden Wahrheit ist uns Schwert und Schild, und
unser Glaube an ihn ist der Sieg, der die Welt überwunden hat! Wir
wissen auch wohl: um den drohenden Gefahren zu begegnen, kommt es in
erster Linie darauf an, daß jeder Bekenner des Evangeliums in seiner Weise
und nach seinem Berufe sich die Pflege und Verteidigung evangelischen Glau-
bens und Lebens angelegen sein läßt. Was in solcher Weise teils zum Auf-
bau, teils zur Abwehr von einzelnen Männern, welche die Waffen des
Geistes zu führen wissen, und von Vereinen bisher schon geschehen ist, achten
wir hoch. Aber es hieße die Gefahr unterschätzen und unsere Pflicht ver-
kennen, wenn wir meinten, es sei damit genug gethan. Der machtvollen
Einheit Roms steht die deutsch-evangelische Christenheit in trauriger Zer-
rissenheit gegenüber. Die Landeskirchen, in welche sie zerfällt, sind durch ein
so loses Band verknüpft und im übrigen so sehr gegeneinander abgeschlossen,
daß das evangelische Gemeinbewußtsein verkümmert. Noch viel verderblicher
ist der Parteihader, welcher die besten Kräfte verzehrt und eine gedeihliche
positive Entwicklung des deutschen Protestantismus lähmt. Während wir
uns über innerkirchliche Fragen entzweien, schreitet der Feind, der uns zu
vernichten strebt, unaufhaltsam vor. Dazu hat er in unserm eignen Lager
gefährliche Bundesgenossen. Die in vielen und einflußreichen Kreisen ver-
breiteten falschen Paritäts- und Toleranzbegriffe leisten ihm willkommene
Hilfe, und der Materialismus, in welchen ganze Schichten unseres Volkes
versunken sind, nicht minder aber der religiöse Indifferentismus bahnen ihm
den Weg zur Herrschaft. Solch eine Lage erheischt große Ziele und um-
fassende Mittel! Alle, welche ein Herz für unsere Kirche haben, alle, welche
von der Uberzeugung durchdrungen sind, daß allein die Treue gegen das
göttliche Wort und der endliche Sieg der evangelischen Wahrheit unser Volk
zur Erfüllung seines weltgeschichtlichen Berufes auch fernerhin befähigen
kann, müssen sich zusammenschließen zu gemeinsamer Arbeit und gemeinsamem
Kampf! Dies erwägend und in diesem Geiste haben bereits am 5. Oktober
v. J. evangelische Männer aus allen Teilen Deutschlands, von mannigfal-
tiger Berufsstellung und aus verschiedenen kirchenpolitischen Parteigruppen,
einander die Hande gereicht, um ihre Glaubensgenossen aufzurufen zu einem
evangelischen Bunde, dessen Zweck die Wahrung der deutsch-protestantischen
Interessen ist. Das Programm dieses Bundes ist folgendes: Der enangelische
Bund bekennt sich zu Jesu Christo, dem eingebornen Sohn Gottes, als dem
alleinigen Mittler des Heils, und zu den Grundsätzen der Reformation. Die
Aufgabe des Bundes ist eine zweiseitige. Er will im Kampfe gegen die
wachsende Macht Roms die evangelischen Interessen auf allen Gebieten wah-
ren, der Beeinträchtigung derselben durch Wort und Schrift entgegentreten,
dagegen allen Bestrebungen wahrer Katholizität und christlicher Freiheit im
Schoße der katholischen Kirche die Hand reichen. Er will anderseits gegen-
über dem Indifferentismus und Materialismus der Zeit das christlich-evan-
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