354 Kr#a##kreich. (Dezember 4.—28.)
Am 3. Dezember vereinigen sich beide Kammern in Versailles als
Nationalversammlung. Es herrscht große Ungewißheit über den Aus-
gang der bevorstehenden Wahl, da auf republikanischer Seite eine Einigung
über den Kandidaten nicht habe erzielt werden können.
Nach Eröffnung der Sitzung bittet der Intranfigent Michelin ums
Wort, um einen Antrag auf eine Verfassungsänderung zu stellen. Präsfi-
dent Leroyer: „Ich kann die Stellung eines Antrags nicht gestatten, denn
die Nationalversammlung ist ein Wahlkollegium.“ Cassagnac: „Sie ist
souverän!“ Gautier (Linke): „Auf welchen Artikel stützen Sie sich, um
ihre Rechte zu beschränken?“ Präsident: „Ich stütze mich auf die Ver-
fassung.“ Gautier: „JIch fordere Sie auf, einen Artikel der Verfassung
anzuführen, welcher zu dieser Beschränkung berechtigt.“ Andrieux: „Be-
fragen Sie die Nationalversammlung, Herr Präfident!““ Baudryd'’'Asson
(Royalist): „Es ist keine Verfassung mehr vorhanden!“
Die Versammlung schreitet nach diesem Zwischenfalle zur Wahl. Bei
der ersten Abstimmung fallen von den 849 abgegebenen gültigen Stimmen
303 auf Sadi Carnot, 212 aus Ferry, 148 auf General Saussier, 76 auf
Freycinet, 72 auf General Appert, 26 auf Brisson, die übrigen Stimmen
zersplittern sich. Beim zweiten Wahlgange tritt Ferry zurück, es werden
833 Stimmen abgegeben, von denen auf Carnot 616, Saussier 188, Ferry
10, Freycinet 6 entfallen.
Carnot ist der Enkel des berühmten Kriegsministers der ersten Re-
publik und der Sohn des Senators.
Die Wahl wird in Paris sehr günstig aufgenommen, die Ruhe wird
nicht gestört, kropen die Bevölkerung mit ungeheurer Spannung dem Er-
gebnif entgegensah und die weitestgehenden Befürchtungen gehegt wurden.
4.— 12. Dezember. (Neubildung des Ministeriums.)
Nachdem der neue Präfident die wiederum nachgesuchte Entlassung
des Kabinetts Rouvier angenommen, beauftragt er nach längeren
Beratungen Goblet mit der Neubildung. Diese macht große
Schwierigkeiten. Goblet scheitert am Widerstande der Opportunisten,
nach ihm Fallières an dem der radikalen Linken. Auch dem
Senator Tirard verweigert Lockroy (radikale Linke) seine Mitwir-
kung, da Tirard zu tief in Ferrys Politik verwickelt sei. Endlich
bringt aber Tirard doch das Kabinett zu stande.
Dasselbe besteht aus: Tirard Präsident und Finanzen, Flourens
Auswärtiges, Fallièeres Justiz, Sarrien Inneres, Faye Unterricht Logerot
Krieg, de Mahy Marine, Loubet Arbeiten, Dautresme Handel, Viette Acker-
bau. Alle sind gemäßigte Republikaner außer de Mahy und Viette, die der
radikalen Linken angehören.
Das Kabinett begegnet sehr abfälliger Beurteilung vonseiten der Ra-
dikalen und Extremen. Clémenceaus „Justice“ nennt es „den heftigsten Schlag
gegen den Geist der Annäherung der republikanischen Gruppen und eine
aum versteckte Herausforderung“; Rocheforts „Lanterne" „ein Ministerium
Ferry in halber Lebensgröße.“ Nach Erlaß der Botschaft schreibt die Lan-
terne: „Carnot treibt persönliche Politik; das Ministerium muß unverzüg-
7 gestürzt werden, selbst auf die Gefahr, daß Carnot seine Drohung aus-
führen sollte, seinen Abschied dann zu nehmen.“
7.—28. Dezember. (Patriotenliga.) Döroulede tritt