Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

110 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 9.—Mitte.) 
errichten und zu unterhalten, welche behufs der Vorbereitung für den geist- 
lichen Beruf nach Maßgabe des Gesetzes vom 5. März 1880, betr. die all- 
gemeine wissenschaftliche Vorbildung der Kandidaten des geistlichen Standes, 
Gelehrtenschulen oder die Universität besuchen. 
Die Leiter, Lehrer und Erzieher an denselben müssen Deutsche sein. 
Abgelehnt wurde von der Kammer die von der Regierung 
vorgeschlagene Bestimmung: 
„Die Staatsregierung ist ermächtigt, einzelnen Geistlichen, welche 
einem im Großherzogtum nicht eingeführten religiösen Orden angehören, zum 
Zweck einer vorübergehenden Aushilfeleistung in der Seelsorge die öffentliche 
Ausübung kirchlicher Funktionen im Gebiet des Großherzogtums nach Maß- 
gabe der Bestimmungen des Gesetzes vom 5. März 1880 und der zum Voll- 
zuge desselben erlassenen Vorschriften in jeder Zeit widerruflicher Weise zu 
gestatten.“ 
Statt dessen wurde den Mitgliedern der Orden nur die „Spendung 
der Sakramente in Notfällen“ gestattet. 
9. Juli. (Landesverratsprozeß.) Das Reichsgericht ver- 
urteilte den Eisenbahnbureau-Hilfsarbeiter Dietz wegen Landesver- 
rats, Beiseiteschaffung von Aktenstücken und Diebstahls zu 10 Jahren 
Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust; Frau Dietz wegen Beihilfe 
zum Landesverrat zu 4 Jahren Zuchthaus und 5 Jahren Ehrver- 
lust, den Färbereibesitzer Appel wegen Beihilfe zum Landesverrat 
und Bestechung zu 9 Jahren Festung und 1 Jahr Gefängnis. 
15. Juli. (Antisemitismus.) Die „Kreuzzeitung“ bringt 
einen äußerst heftigen Artikel, der schließt: 
„Bleibt das jüdische Monopol der moralischen Einschätzung bestehen, 
dann fahr wohl: Ehrlichkeit, Wahrheit, Treue, Recht, Freiheit! Wir hoffen 
aber, daß ein Befreier kommen wird. Es ist ein Schandfleck der europäi- 
schen Staatskunst, daß man die Juden eine so verächtliche und gefährliche 
Rolle spielen läßt. Die Judenmacht muß gebrochen werden. Welcher Fürst, 
welcher Staatsmann beginnt diesen nationalsten aller Feldzüge? Wir sind 
überzeugt, daß er in kurzer Zeit bis auf wenige unwürdige Ausnahmen das 
ganze Volk und zwar zu jeder Maßregel auf seiner Seite haben würde. 
Heute sind die meisten Sklaven. Erst wenn die Ketten jüdischen Mammons 
gebrochen, die Fesseln jüdischen Geistes gesprengt sind, kann man wieder von 
Freiheit reden.“ 
Mitte Juli. (Kartell.) Der Führer der konservativen Partei 
im Abgeordnetenhause Herr v. Rauchhaupt veröffentlicht in der 
„Hallischen Zeitung"“ eine Erklärung, in welcher die politische Wirk- 
samkeit der nationalliberalen Partei auf das Heftigste angegriffen 
und derselben in unverblümter Weise für die bevorstehenden Wahlen 
zum Landtage der Kampf angekündigt wird. 
Es sei tatsächlich unrichtig, daß die Nationalliberalen den Deutsch- 
konservativen im Osten bei den Landtagswahlen irgendwo einen erheblichen 
Dienst geleistet hätten. Das geltend gemachte Bestreben, die gemäßigten Ele- 
mente des Freisinns im Osten wieder an die Nationalliberalen heranzuziehen,
	        
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