120 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (August 23.—24.)
Unterlage entbehren. Vielleicht wird die Tragweite dieses Besuches sowie
überhaupt derartiger Zusammentreffen überschätzt. Es ist ganz natürlich,
daß zwei Staatsmänner wie Fürst Bismarck und Herr Crispi, die während
des ganzen Jahres in ununterbrochener Geschäftsverbindung stehen, von Zeit
zu Zeit das Bedürfnis fühlen, sich über gewisse Fragen persönlich auszu-
sprechen, um etwaige Mißverständnisse, falls sich dieselben irgendwo einge-
schlichen haben sollten, ganz zu beseitigen und um in allgemeiner Weise ihre
Gedanken über die, nächstliegenden Eventualitäten gegenüber einzunehmende
Haltung auszutauschen. Daß bei solchen Zusammenkünften neue und wich-
tige Übereinkommen abgeschlossen werden sollten, ist natürlich nicht ausge-
schlossen; aber im allgemeinen wird man richtig sehen, wenn man in dem
periodischen Zusammentreffen hochgestellter Staatsmänner eben auch nichts
weiter erblickt, als einen Ausdruck der zwischen ihnen bestehenden geschäft-
lichen und gesellschaftlichen guten Beziehungen. Es dürfte die Hauptbedeu-
tung des Crispischen Besuches darin liegen, den Beweis zu liefern, daß die
persönlichen Beziehungen zwischen den leitenden Staatsmännern von Deutsch-
land und Italien ungetrübt der besten Art sind und daß man zuversichtlich
annehmen darf, daß die freundlichen Beziehungen vom Wirt zum Gast den
geschäftlichen vom Reichskanzler zum Minister-Präsidenten nur förderlich
ein können."
23. August. (Kaiser Wilhelm in Sonnenburg.) Beim
Ordensfest des Johanniterordens läßt sich Kaiser Wilhelm vom
Herrenmeister die Insignien des Ordens, die er bisher nicht besessen
hatte, überreichen. In der Rede, die er daselbst bei dem Diner
gehalten, lautet die Hauptstelle (nach dem „Reichs-Anzeiger“"):
„Die großen Aufgaben, welche Mir auf dem Gebiete der inneren Ent-
wickelung Meines Volkes obliegen, vermag Ich nicht allein durch die staat-
lichen Organe zu lösen. Zur Hebung und moralischen, sowie religiösen
Kräftigung und Entwickelung des Volkes brauche Ich die Unterstützung der
Edelsten desselben, Meines Adels, und die sehe Ich im Orden St. Johannes
in stattlicher Zahl vereint. Ich hoffe von Herzen, daß es Mir gelingen
möge im Verein mit der liebestätigen Unterstützung des Johanniterordens,
die Ausführung und Fortbildung der Hebung des Sinnes für Religion und
christliche Zucht und Sitte im Volke zu bewirken und so die hohen Ziele
zu erreichen, welche Ich Mir als Ideale gestellt habe.“
24. August. (Boulanger.) Die „Nordd. Allg. Ztg.“ schreibt:
„Die „Times" bringt einen Leitartikel über die großen Wahlerfolge,
welche der General Boulanger soeben errungen hat, und führt darin aus,
daß dieses Wiederauftauchen des Boulanger-Sternes, den man bereits unter-
gegangen gewähnt hätte, in Berlin unangenehm berühren würde. Dies ist
ein vollständiger Irrtum: In Berlin wird man stets mit Genugtuung jeder
Entwickelung Frankreichs gegenüberstehen, die geeignet scheint, dem benach-
barten Lande Ruhe zu verschaffen und es wieder zu einem zahlenden Ab-
nehmer unserer Produkte zu machen. Unter welcher Regierungsform dies
geschehen möge, ist eine Frage, die für uns gar keine Bedeutung hat. Wir
haben keinerlei kriegerische Velleitäten, und jede französische Regierung, die
den Frieden nicht bedroht, ist uns recht und wird uns willkommen sein.
General Boulanger hat hinreichende Versprechungen gegeben, daß auch ihm,
im Interesse Frankreichs, die Aufrechterhaltung des Friedens am Herzen
liege, und es ist deshalb gar kein Grund vorhanden, uns wegen der Even-
tualitäten zu beunruhigen, die an die Wahl des Generals geknüpft werden: