126 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Sept. 3.—8.)
3. September. Eine Extraausgabe des „Reichsanzeigers“ macht
die Verlobung der Prinzessin Sophie, Schwester des Kaisers, mit
dem Kronprinzen von Griechenland bekannt.
8. September. (Der konservative Wahlaufruf.) Der
Vorstand der konservativen Partei des Abgeordnetenhauses ist mit
folgendem Wahlaufrufe vor die Wähler getreten:
Das preußische Volk ist binnen kurzem berufen, Neuwahlen zum
Hause der Abgeordneten zu bewirken.
Die Herzen der Wähler find noch erfüllt von tiefer Trauer über den
innerhalb weniger Monate erfolgten Heimgang zweier Kaiser und Könige,
der unerreichten Vorbilder ihres Volks, aber neben dieser Trauer steht die
freudige Zuversicht, daß auf den festen Grundlagen, welche durch das ruhm-
reiche Regiment des Kaisers und Königs Wilhelm I. zum Segen unseres
Volkes gelegt sind, nach den ausdrücklichen Verheißungen seines Enkels, un-
seres erhabenen Kaisers und Königs Wilhelm II., weiter gebaut werden soll.
Diese Verheißungen, welche unserem Volke die Stetigkeit einer be-
sonnenen monarchischen Entwickelung verbürgen, sind es, welche den Weg
vorzeichnen, den auch die Wähler bei der bevorstehenden Wahl einzuschlagen
haben. Sie bieten die Möglichkeit, daß bei dem Wahlkampfe alle diejenigen
Parteien auch ferner zusammenstehen, welche für die Bewahrung eines starken
königlichen Regimentes, für die Pflege der Liebe zu unserem eigenen preu-
ßischen und weiteren deutschen Vaterlande und für die Erhaltung christlicher
Zucht und Sitte in unserem Volke seither zusammen gestanden haben.
Die konservative Partei bietet allen die Hand, welche mit ihr diese
Ziele zu erstreben gewillt sind. Deutschlands Fürsten, welche sich einmütig
bei der Thronbesteigung um Kaiser Wilhelm lII. geschart, mögen den preu-
ßischen Wählern ein leuchtendes Vorbild rückhaltloser Hingebung an das
Vaterland auch bei der bevorstehenden Wahl sein.
Die konservative Partei hält daran fest, daß eine Reform der be-
stehenden direkten Steuern ein dringendes Bedürfnis ist. Die Gewerbesteuer
ist veraltet. Die Grund= und Gebäudesteuer wirkt als Zuschlagssteuer um
so drückender, als der Grundbesitz in seinen Erträgen immer mehr zurück-
geht. Das Einschätzungsverfahren der Klassen= und Einkommensteuer ist un-
zureichend geworden, die Abstufung der Steuersätze erweist sich als unrichtig.
Neben der Reform der direkten Steuern sind im Falle verfügbarer
Mittel wirksamere Erleichterungen der kommunalen Verbände bei Deckung
ihrer schwerlastenden Ausgabebedürfnisse durch Überweisungen aus Staats-
fonds ferner geboten.
Die Leistungen für die Volksschule bedürfen weiterer gesetzlicher Re-
gelung. Nicht nur ist die Beitragslast der einzelnen Schulunterhaltungs-
pflichtigen in ihrem Verhällnisse zu einander vielfach unhaltbar geworden,
sondern es mangelt auch an den ausreichenden gesetzlichen Unterlagen für die
innere Gestaltung der Schulgemeinden selbst.
Die konservative Partei tritt im Interesse der religiös-sittlichen Jugend-
erziehung und im Anschlusse an die historische Entwickelung für die kon-
fessionelle Volksschule ein, sie kann aber zu einer gesetzlichen Regelung des
Verhältnisses der Kirche zur Schule, wie sie der Antrag der Zentrumspartei
fordert, die Hand nicht bieten.
Für den Erlaß einer den ganzen preußischen Staate umfassenden Land-
gemeindeordnung sehen wir kein Bedürfnis. Die Freiheit der Entwickelung
unserer ländlichen Verhältnisse ist gegenwärtig in keiner Weise behindert, sie
beruht vielmehr auf gesunden Grundlagen. Dagegen glauben wir, daß da,