Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

130 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (September 15.) 
Erlaß eines Schulgesetzes, der in vielen Provinzen dringend notwendigen 
Wege-Ordnungen, die Verbesserung des Armenwesens, insbesondere auf dem 
Lande, die festere Abgrenzung der Polizeigewalt und in allen diesen Be- 
ziehungen eine gerechtere Verteilung der Lasten ermöglichen, jedenfalls erleich- 
tern. Wir werden mit Entschiedenheit auf die Durchführung solcher auch 
zur Ausgleichung bestehender Interessengegensätze und zur Erhaltung und 
Stärkung der mittleren ländlichen Besitzungen notwendigen organischen Gesetze 
dringen und hoffen, dieselben in Übereinstimmung mit der Staatsregierung 
und den andern Parteien wie bei der Kreis= und Provinzial-Ordnung ins 
Leben zu rufen. Wir haben gern mitgewirkt, um der evangelischen Kirche 
eine größere Selbstverwaltung und eine freiere Vertretung unter Mitwirkung 
des Laienstandes zu sichern, und werden stets bereit sein, berechtigten Wün- 
schen und Bedürfnissen derselben, soweit der Staat dabei mitzuwirken berufen 
ist, entgegenzukommen. Wir werden aber auch in Zukunft alle Bestrebungen, 
eine hierarchische Gewalt innerhalb der evangelischen Kirche zu begründen, 
die historische Verbindung derselben mit dem Staatsoberhaupte zu lockern, 
die evangelische Gemeindefreiheit zu Gunsten einer übermäßigen Zentralisation 
zu vermindern und einseitige Richtungen zur ausschließlichen Herrschaft inner- 
halb der evangelischen Volkskirche zu bringen, mit aller Entschiedenheit be- 
kämpfen. Die zur Wiederherstellung eines friedlichen Verhältnisses mit der 
römischen Kirche vom Staate gemachten weitgehenden Zugeständnisse haben 
uns schwere Bedenken eingeflößt. Diese Bedenken müssen jedoch gegenwärtig 
zurücktreten, wenn jene Gesetze sich als geeignet erweisen, den auch von uns 
dringend gewünschten Frieden zwischen Staat und Kirche dauernd zu erhal- 
ten, und der Streit nicht zu dem Zweck fortgesetzt wird, um weitere mit 
der Stellung des Staates gegenüber den Konfessionen unvereinbarliche Zu- 
geständnisse zu erreichen. Wir verwerfen alle direkten und indirekten Ver- 
suche, der preußischen Volksschule ihren Charakter als einer staatlichen Ver- 
anstaltung zu nehmen oder sie durch die sogenannte Schulfreiheit, d. h. durch 
eine Loslösung der Schule von der staatlichen Aufsicht und Leitung zu unter- 
graben. Wir werden eintreten für den baldigen Erlaß eines Schulgesetzs, 
welches solchen für die Volksbildung und das Staatswohl nachteiligen Be- 
strebungen jeden Boden entzieht. Bei voller Anerkennung der hohen Bedeu- 
tung des religiösen Unterrichts in den Schulen werden wir dahin zu wirken 
suchen, daß den bezeichneten Tendenzen auch in der Verwaltung keinerlei 
Vorschub geleistet und die Freiheit und Unabhängigkeit der preußischen Volks- 
schule vor allen unberechtigten Einflüssen bewahrt wird. Große von uns 
und unsern Vorfahren erworbene Güter sind zu behaupten, bedeutende und 
schwierige Reformen in der Zukunft durchzuführen. Beides ist, wie die Er- 
fahrung der letzten Jahrzehnte bewiesen hat, nur möglich, wenn die Mehrheit 
der Landesvertretung sich von radikalen Tendenzen und persönlichen Gegen- 
sätzen freihält und nicht ihre Hauptaufgabe in der Verfolgung einseitiger 
kirchlicher oder weltlicher Ziele sieht. Wer einen stetigen, gesicherten Gang 
des Staatslebens erhalten und befestigen will, der wirke für die Wahl ge- 
mäßigt liberaler Abgeordneter, welche die freiheitlichen Institutionen des 
Landes zu vertreten und jeden praktisch erreichbaren Fortschritt im Interesse 
des Gesamtwohles des Volkes anzustreben entschlossen sind. Die letzten 
Wahlen zum deutschen Reichstage haben dargetan, daß diese Anschauung 
von der großen Mehrheit des Volkes geteilt wird und daß es nur einer 
getreuen Pflichterfüllung aller zur Wahl Berufenen bedarf, um ihr zum Sieg 
zu verhelfen. Wir vertrauen und hoffen, daß die preußischen Wähler und 
Wahlmänner diese erste Pflicht eines jeden zur Ausübung politischer Rechte 
berufenen Staatsbürgers gegen das Vaterland voll und ganz erfüllen werden. 
Unsere politischen Freunde fordern wir auf, ohne Verzug in allen Wahl-
	        
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