Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Sept. Ende —Okt. Mitte.) 135
sichten. Das „künstlich hergestellte Chaos“ ist das deutsche Reich geworden,
das nicht nur äußerlich fest und mächtig fundamentiert, sondern auch inner-
lich in dem vollen Vertrauen der Stämme und Fürsten fest gewurzelt ist.
Die formalen Mängel der Organisation haben gerade wesentlich zum inneren
Zusammenschluß mitbeigetragen. Die 1870/71 bewiesene Beschränkung auf
das unbedingt Notwendige war, im Gegensatz zu der Auffassung des Tage-
buchs, ein Meisterstück weitsichtiger Staatskunst, und es ist auch heute noch
ein unabweisbares Gebot der Staatsweisheit, die äußeren Formen der Ein-
heit dem festen und andauernd vollen Anschluß der Gliedstaaten an das Reich
nachzustellen. Erwägungen dieser Art sind bei dem Lesen des Tagebuchs gar
nicht zurückzudrängen; ob es im Interesse des Angedenkens Kaiser Friedrichs
wirklich liegt, dieselben herauszufordern, wird sich jeder selbst sagen können.“
Ebenso äußert sich die „National-Zeitung“, die edle Persön-
lichkeit des Verfassers trete darin von neuem so sympathisch her-
vor, wie sie in der Erinnerung der Zeitggenossen lebt.
„Dagegen wird eine unbefangene Prüfung weder zugestehen können,
daß hier ein wichtiger Beitrag zur Geschichte jener großen Zeit vorliegt,
noch daß der Einsender von der wünschenswerten Diskretion geleitet worden.
Was den ersten Punkt betrifft, so enthält das Tagebuch keine einzige erheb-
liche Tatsache, welche bisher unbekannt gewesen wäre; es bringt mancherlei
Einzelheiten, die sich um die bekannten Tatsachen als interessante Arabesken
schlingen, aber manches davon hätte ein wirklich „diskreter Einsender" unter-
drückt. Der Kronprinz durfte alles, was er sah und dachte, in seinem Tage-
buch verzeichnen, denn der Gedanke einer Veröffentlichung lag ihm damals
natürlich fern. Etwas durchaus anderes ist die Publikation. Niemand wird
glauben, daß dem Autor dieses Tagebuches die Veröffentlichung gewisser
Äußerungen seines Königlichen Vaters, welche vorübergehende Stimmungen
bezeichneten, oder die von satirischen Anmerkungen über den Prinzen Frie-
drich Karl u. dgl. erwünscht gewesen wäre. Politisch betrachtet noch bedenk-
licher ist eine Veröffentlichung wie die, Fürst habe am 24. Oktober 1870
dem Schwager des Kronprinzen (gemeint ist jedenfalls der Großherzog von
Baden) erzählt, daß er „nach Beendigung des Krieges gegen die Unfehlbar-
keit vorgehen wolle"“. Diese Angabe kann nur dazu dienen, den leidenschaft-
lichen Streit darüber, wer den kirchenpolitischen Kampf begonnen hat, wieder
anzufachen und dabei dem Ultramontanismus eine Waffe zu liefern. Nie-
mand wird glauben, daß dies im Sinne des toten Kaisers ist. Ein anderes
Beispiel: ist es notwendig, die Tatsache an die große Glocke zu hängen,
daß das Konzept des Briefes, worin der König von Bayern dem König
Wilhelm die Kaiserwürde anbot, von dem Fürsten Bismarck herrührte, weil
man in München nicht die richtige Fassung zu finden vermochte? Das sind
Einzelheiten; im allgemeinen aber ist zu bemerken, daß man von dem da-
maligen Verlauf der Dinge, namentlich von den Verhandlungen über den
Eintritt der süddeutschen Staaten in den Bund, über die Begründung der
Kaiserwürde eine unrichtige Vorstellung erhalten würde, wenn man sie sich
ausschließlich nach dieser Veröffentlichung bilden wollte. Auf Grund der-
selben könnte es scheinen, als ob dem Kanzler an der Herstellung des Reiches
einschließlich der Kaiserwürde nicht viel gelegen hätte, während — dies er-
sieht man von neuem mit Freude und Rührung aus dem Tagebuch — der
Kronprinz vom ersten Augenblick an darauf hindrängte, daß der Nation der
volle politische Lohn des Kampfes zu teil werden sollte. Aber die Geschichte
jener Tage ist aus anderen Quellen zur Genüge bekannt, so daß man sagen
darf: dieser, einmal nach Ausweis des Tagebuches sogar bis zu einem —-
persönlichen Zusammenstoß gediehene Gegensatz beruhte in der Hauptsache