Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

136 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Sept. Ende—Okt. Mitte.) 
doch nur darauf, daß der Kronprinz, trotz seiner hohen Stellung und trotz 
gelegentlichen Eingreifens, bei den bezüglichen Verhandlungen ein kritisierender 
Zuschauer war, der Kanzler aber inmitten von Schwierigkeiten und not- 
wendigen Rücksichten zu handeln hatte. Ein „kunstvoll gefertigtes Chaos"“ 
nannte der Kronprinz aus dieser Zuschauer-Stellung heraus die endlich zu 
stande gekommene Reichsverfassung. Das „Chaos“" hat sich doch seitdem ziem- 
lich bewährt. An dem, was der Kronprinz damals in sein Tagebuch schrieb, 
wird niemand Kritik üben wollen; die Veröffentlichung allein ist es, welche 
die Kritik herausfordert. 
25. September. Fürst Bismarck trifft plötzlich von Fried- 
richsruh in Berlin ein. Wie dem „Hamburger Korrespondent“ 
gemeldet wird, traf der Kanzler die Dispositionen erst wenige 
Stunden vor der Abreise. 
27. September. Der „Reichs= und Staatsanzeiger“ veröffent- 
licht folgende Aktenstücke: 
Der Minister-Präsident hat auf Allerhöchsten Befehl das 
nachfolgende Schreiben an den Justizminister gerichtet: 
Berlin, den 25. September 1888. 
Ew. Exzellenz beehre ich mich, in der Anlage Abschrift eines Im- 
mediatberichtes vom 23. d. M. mit der Eröffnung ergebenst mitzuteilen, daß 
Se. Majestät den von mir darin gestellten Schlußantrag genehmigt, die Ver- 
öffentlichung des Berichtes befohlen und mich beauftragt haben, Ew. Exzellenz 
um Ausführung der Allerhöchsten Willensmeinung zu ersuchen. 
von Bismarck. 
An den Königl. Staats= und Justizminister Hrn. Dr. von Friedberg Exzellenz. 
Der in dem Schreiben in Bezug genommene Immediatbericht 
vom 23. d. M. lautet wie folgt: 
Friedrichsruh, den 23. September 1888. 
Auf Ew. Kaiserlichen Majestät Befehl beehre ich mich, bezüglich des 
in der „Deutschen Rundschau“ veröffentlichten angeblichen Tagebuchs des 
Hochseligen Kaisers folgendes zu berichten: 
Ich halte dieses „Tagebuch“ in der Form, wie es vorliegt, nicht für 
echt. Se. Majestät der damalige Kronprinz stand 1870 allerdings außer- 
halb der politischen Verhandlungen und konnte deshalb über manche Vor- 
gänge  unvollständig oder unrichtig berichtet sein. Ich besaß nicht die Er- 
laubnis des Königs, über intimere Fragen unserer Politik mit Seiner König- 
lichen Hoheit zu sprechen, weil Se. Majestät einerseits Indiskretionen an 
dem von französischen Sympathien erfüllten englischen Hof fürchteten, anderer- 
seits Schädigungen unserer Beziehungen zu den deutschen Bundesgenossen, 
wegen der zu weit gesteckten Ziele und der Gewaltsamkeit der Mittel, die 
Sr. Königl. Hoheit von politischen Ratgebern zweifelhafter Befähigung em- 
pfohlen waren. Der Kronprinz stand also außerhalb aller geschäftlichen Ver- 
handlungen. Nichtsdestoweniger ist es kaum möglich, daß bei täglicher Nieder- 
schrift der empfangenen Eindrücke so viele Irrtümer tatsächlicher, namentlich 
aber chronologischer Natur in den Aufzeichnungen enthalten sein könnten. 
Es scheint vielmehr, daß entweder die täglichen Aufzeichnungen selbst, oder 
doch spätere Vervollständigungen von jemand aus der Umgebung des Kron- 
prinzen herrühren. Gleich in den ersten Zeilen wird gesagt, daß ich am 
13. Juli 1870 den Frieden für gesichert gehalten hätte, und deshalb nach 
Varzin zurückkehren wollte, während aktenmäßig feststeht, daß Seine König- 
 
	        
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