140 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Sept. Ende—Okt. Mitee.)
zweckdienlich. Unter den einfachen, aber wuchtigen Worten des Bismarckschen
Immediatberichts zerfällt der künstliche Nimbus, welcher um das Tagebuch
verbreitet ist; es erscheint auch, soweit es etwa auf unmittelbaren Aufzeich-
nungen beruht, als das Ergebnis völlig subjektiver Auffassung eines Unein-
geweihten und daher als ein Werk von nichts weniger als autoritativer Be-
deutung für die Geschichte jener Tage. Wenn dabei das Andenken Kaiser
Friedrichs geschädigt wird, so trifft neben den Urhebern der Veröffentlichungen
die Schuld diejenigen, welche im Parteiinteresse planmäßig die Aufbauschung
des „Tagebuchs" betrieben!"
Auch die „Kölnische Zeitung“ erklärt sich jetzt gegen das Tage-
buch Kaiser Friedrichs, was die „Freisinnige Zeitung“ in einem
Artikel „Die politische Wetterfahne“ zu einem Ausfall veranlaßt,
in dem es u. a. heißt:
Von dem Augenblick an, wo Fürst Bismarck offiziös und offiziell
seinen Tadel über die Veröffentlichung und den Inhalt vernehmen ließ, suche
die „Kölnische Zeitung“ durch Beschimpfung der Veröffentlichung und des
Kaisers Friedrich sich vor allem hervorzutun. „Am 22. September helle
Begeisterung für das herrliche Tagebuch, sechs Tage darauf donnernde Phi-
lippika über das „ungehobelte Machwerk"“ gegen die „Schleicher und Ränke-
schmiede, Umstürzler, Hetzer und Störenfriede“, „über deren Häuptern Fürst
Bismarck das Ungewitter entfesselt hat, welches mit reinigender Kraft auf
unsere politische Atmosphäre einwirken wird.“
Den Standpunkt vorher und nachher suche die „Kölnische Zeitung“
jetzt ihren Lesern plausibel zu machen damit, daß sie zuerst das Tagebuch
„vom litterarischen Standpunkt wie etwa den Inhalt eines Romans“ erzählt
habe. Jetzt aber habe sie vom politischen Standpunkt die Legendenbildung
und das Ammenmärchen beurteilt.
Das freikonservative „Deutsche Wochenblatt“ tadelt scharf die
Veröffentlichung des Immediatberichtes des Kanzlers über das Tage-
buch Kaiser Friedrichs, besonders die Stelle über die Besorgnis vor
Indiskretionen, da das Andenken des toten Kaisers wie das Ver-
trauen des Volkes zur Dynastie darunter leide.
Die freisinnige Presse sucht Kaiser Friedrichs Wort von dem
„freisinnigen Ausbau Deutschlands“ zu Parteizwecken auszunutzen.
An den Wahlspruch Kaiser Friedrichs anknüpfend, schreibt so die
„Freisinnige Zeitung“:
„Furchtlos und beharrlich", so lautete der Wahlspruch des Kaisers
Friedrich nach den Aufzeichnungen in seinen Tagebüchern, als er hinauszog
zu dem schweren Kampfe, aus dem die deutsche Einheit hervorging. Furcht-
los und beharrlich, ist auch der Wahlspruch, unter dem die freisinnige Partei
den Kampf für den „freisinnigen Ausbau Deutschlands“ weiter zu führen
hat. Dieser freisinnige Ausbau Deutschlands war „der Hauptgedanke“ des
verewigten Kaisers Friedrich vor den Schlachten in dem großen Kriege. „Die
Hoffnung auf den Ernst des Volkes, die Pflicht für den freisinnigen Ausbau
des staatlichen und nationalen Lebens“ beschäftigten ihn unmittelbar nach
dem Sedantage. Aber „an der Aufrichtigkeit für den freiheitlichen Aufbau
des Reiches“ zweifelte er nach erkämpftem Frieden und glaubte nur, daß
eine neue Zeit, die einst mit ihm rechne, solches erleben wird; denn solche