164 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 1. Hälfte.)
Die „Kreuzzeitung“ glaubt in diesem letzten Satz eine Über-
hebung zu sehen und wendet sich in einem scharfen Artikel mit der
Überschrift „Hochmut kommt vor dem Fall“ gegen den Artikel der
„Nationalzeitung“:
„Diese Nationalliberalen, welche nirgends aus eigener Kraft bestehen
können, sind allmählig durch die allseitige Unterstützung, die sie von den
Offiziösen, den Freikonservativen und auch von den Konservativen seit Jahres-
frist erfahren haben, so übermütig geworden, daß sie den Konservativen, die
bei der Reichstagswahl durch das Kartell wahrlich nichts für sich erreicht
haben, sondern nur überall ehrlich das Emporkommen der Nationalliberalen
unterstützt haben, zurufen: „Wenn euer demnächstiges Auftreten im Reichs-
tage uns befriedigt, werden wir das Kartell möglicherweise wieder eingehen!"“
Wir müssen offen gestehen, einen derartigen Hochmut haben wir nur kurz
vor dem Fall gesehen. Und dieser Fall dürfte hier um so schneller zu er-
warten sein, als die Konservativen sich gewiß nicht auf die Dauer durch
stolze, ja übermütige Worte über die Schwäche und Unzuverlässigkeit ihrer
nationalliberalen Schutzbefohlenen täuschen lassen werden.“
In der freisinnigen Presse sucht man vielfach das Ergebnis
der Wahlen als einen Sieg der freisinnigen Sache hinzustellen.
Nur die „Volkszeitung“ und die „Vossische Zeitung“ gestehen die
Niederlage ein, jene, indem sie gegen die „Leisetreterei“, die in der
Partei immer mehr einreiße, und gegen das büreaukratisch-zentra-
listische System Richters eifert. Die „Vossische Zeitung“ schreibt:
„Kann man aber bei der Frage, wer gesiegt habe, sehr zweifelhaft
sein, so ist die Antwort auf die Frage, wer geschlagen worden sei, unzwei-
deutig. Es wäre töricht, wollten wir die herbe Niederlage der freisinnigen
Partei irgendwie beschönigen, oder auf irgendwelche äußerlichen Ursachen
zurückführen. Alle Wahlsysteme geben unter gleichen Umständen ziemlich
das gleiche Resulsat. Die Fortschrittspartei hat einst unter dem Dreiklassen-
system glänzende Siege erfochten, trotz aller gewalttätigen Wahlbeeinflussungen.
Wenn sie heute sowohl bei der geheimen, wie bei der öffentlichen Wahl Ver-
luste auf Verluste erleidet, so muß sie in richtiger Selbsterkenntnis die Schuld
nicht in irgendwelchen Nebensachen suchen, sondern in sich selbst. Es ist kein
angenehmes Amt, die Hand in die Wunde zu legen. Aber ohne Erkenntnis
der Krankheit ist keine Besserung, keine Heilung zu hoffen. Die freisinnige
Partei wird prüfen müssen, ob ihre Organisation, ihre Leitung, ihr Pro-
gramm, ihre Taktik den Bedürfnissen der Zeit und den Wünschen der Wähler-
schaft noch entspricht. Denn sie steht vor einer ernsten Zukunft. Die Tage
des Liberalismus können schnell wiederkehren; es muß bei Zeiten Sorge ge-
tragen werden, daß sie auch eine zielbewußte und in sich geschlossene liberale
Partei finden."
Die Polemik gegen die freisinnige Parteileitung wird von
beiden Organen weiter fortgesetzt. Die „Volks-Zeitung"“ bemerkt
in einem zweiten Artikel, dieselbe begnüge sich damit,
„sich in entscheidenden Fragen mit verlegenen Redensarten herauszu-
drücken“. „Es gehöre keine übermenschliche Leistungsfähigkeit dazu, neben
der Redaktion einer Zeitung als Führer einer Partei innerhalb fünf Jahren
in vier schwere Niederlagen hineinzureiten."