Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 1. Hälfte.) 165
Die „Vossische Zeitung“ sagt: „Ein geistreicher Schriftsteller, der einst
zu der roten Demokratie zählte und heute der freisinnigen Partei angehört,
schrieb vor einem Menschenalter: „Man kann ebenso gut auf die allmählich
erwachsene Umgestaltung seiner Ansichten stolz sein, wie auf die ungebeugte
Treue gegen sich selbst. Am besten tut man, auf keines von beiden stolz
zu sein.“ Und treffend fügte er hinzu: „Tatlosigkeit und Erstarrung sind
vom Übel; allein es gibt noch etwas gefährlicheres; das ist die Scheinheilig-
keit, das ist die selbstbewußte Selbsttäuschung, die im rastlos drehenden Eich-
hornskäfig herumwirbelt, ohne vom Fleck zu kommen, und sich Wunder was
von ihrer fortschreitenden Regsamkeit einbildet.“ Die freisinnige Partei steht
vor der Gefahr dieser selbstbewußten Scheintätigkeit. Nicht irgendein Ver-
zicht auf liberale Ideen tut not; ihre schärfere Betonung wird in Zukunft
vielmehr noch dringender werden als bisher. Aber die Formeln eines Pro-
gramms, das für andere Zeiten geschaffen war, erschöpfen nicht mehr die
Bedürfnisse der Gegenwart; eine wesentlich auf die kritische Abwehr gerichtete
Taktik, welche oft der Stimmung der Wähler widersprach, hat weder erhal-
tende noch werbende Kraft; eine Parteileitung, welche weder der Inbegriff
der politischen Intelligenz, noch wenigstens durch den Erfolg gerechtfertigt
ist, genügt weder für die Verteidigung, noch für den Angriff, und eine Or-
ganisation, mit welcher man von Niederlage zu Niederlage gelangt, ist der
Verbesserung dringend bedürftig. In wenig mehr als Jahresfrist werden
die Reichstagswahlen erfolgen, wieder auf ein halbes Jahrzehnt hinaus.
Wenn die freisinnige Partei nicht inzwischen mit strenger Selbstkritik eine
Reform in sich selbst vollzieht, so wird sie zwischen Sozialdemokratie und
Reaktion wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben werden.“
Das Organ der freisinnigen Parteileitung dagegen, die „Frei-
sinnige Zeitung“, sucht die Ursachen der Wahlniederlage an anderer
Stelle.
Indem sie in ihrer Betrachtung bis zum Jahre 1862 zurückgeht, wo
unter 353 Abgeordneten 141 Fortschrittsmänner gewählt worden seien, führt
sie alle die „Sonder-Bestrebungen" auf, die sich seitdem hervorgedrängt hätten,
wie Sozialdemokratie und Schutzzöllnertum, Ultramontanismus und Antisemi-
tismus. „Das deutsche Volk hat seit 1862 zwar die äußere Einheit gewonnen,
aber in seinem inneren politischen Leben ist es weit mehr als damals durch
Parteiungen zerklüftet, welche nicht durch ein einheitliches nationales Inter-
esse, sondern durch die Verfolgung der Sonderinteressen wirtschaftlicher Klassen
oder Religionsparteien bestimmt werden. Die freisinnige Partei ist folge-
richtig allen solchen Sonderbestrebungen auf das Entschiedenste entgegenge-
treten und hat denselben keinerlei Konzessionen gemacht auf Kosten des ein-
heitlichen Staatsinteresses. Wenn die freisinnige Partei darüber an Mit-
gliedern erheblich eingebüßt hat, so muß dies im politischen Gesamtinteresse
bedauert werden, kann aber der freisinnigen Partei nicht zum Vorwurf oder
zur Unehre gereichen.“
Der Artikel schließt mit den Worten:
„Jede andere politische Partei in Deutschland würde unter dem Zu-
sammentreffen so vieler ungünstigen Verhältnisse, mit denen die freisinnige
Partei fortgesetzt zu kämpfen hat, längst bis auf den letzten Mann ihrer
Vertretung im Parlament beraubt worden sein. Daß dies bei der freisinnigen
Partei nicht der Fall ist, verdankt sie einem festen Stamm charaktervoller
und selbstloser Parteigenossen, der auch unter den ungünstigsten Verhältnissen
an der Fahne festhält.
Besser werden die Verhältnisse für die freisinnige Partei unter dem