Die Österreichisch-Ungarische Monarchie. (März 23.- 27.) 241
haltende Rufe: Pfui! Das ist schändlich! Eine solche Beleidigung des Prä-
sidenten darf nicht geduldet werden! Pfui! Das Wort entziehen! Anhaltender
Lärm und Bewegung im ganzen Hause.) Präsident (gibt wiederholt das
Glockenzeichen; allmählich tritt Ruhe ein): Sie haben das Präsidium belei-
digt; ich erteile Ihnen den Ordnungsruf und entziehe Ihnen das Wort.
(Lebhafte Zustimmung im ganzen Hause.) Schönerer: Ich bitte
(Stürmische Unterbrechung und Rufe: Ruhig! Ruhig! Sie haben jetzt zu
schweigen!) Ich will zur Geschäftsordnung reden. (Rufe: Ruhig! Sie haben
gar nicht mehr zu reden!) Präsident: Der Abg. Pattai hat das Wort.
(Anhaltender Lärm und Bewegung.) Schönerer (schreit): Zur Geschäfts-
ordnung verlange ich das Wort! (Lebhafte Unterbrechung, unausgesetzte
Rufe: Ruhig! Ruhig!) Ich appelliere an das Haus und bitte, abstimmen
zu lassen, ob ich weiter sprechen darf. (Mit dem Aufgebote der ganzen
Stimme:) Die Geschäftsordnung muß gehandhabt werden! (Furchtbarer
Lärm im Hause.) Präsident (gibt das Glockenzeichen): „Ich bitte, die
Plätze einzunehmen. Ich bitte die Herren, welche dem Abg. Schönerer
weiterzusprechen gestatten wollen, sich zu erheben.“ Es erheben sich nur zehn
Abgeordnete. Präsident: Abg. Pattai hat das Wort. (Die Bewegung
im Hause dauert fort.)
Es sprechen hierauf Pattai (Antisemit), Türk (Antisemit), Lueger
(Demokrat) und Vaschaty (Jungtscheche) gegen die Auslieferung, dafür
ergreift nun der Berichterstatter das Wort. Bei der Abstimmung stimmen
nur die Antisemiten, Demokraten, Slowenen, Trentiner, ferner 6 von der
deutsch-nationalen Vereinigung und die Jungtschechen Graf Kaunitz und Fr.
Vaschaty gegen die Auslieferung; 3 von der deutschnationalen Vereinigung
dafür, 3 andere verlassen den Saal, ebenso Prinz Aloys Liechtenstein mit
dem größten Teile der Klerikalen.
23. März. (Österreich.) Abg.-Hs.: vertagt sich bis zum
10. April.
23. März. (Österreich.) Herren-Hs.: genehmigt das von
der Regierung vorgelegte Gesetz über die äußeren Rechtsver-
hältnisse der jüdischen Kultusgemeinden und schließt
sodann seine Wintersession.
Das Gesetz ordnet die bisher ganz ohne Organisation gewesenen Ver-
hältnisse der jüdischen Gemeinden, grenzt Sprengel ab, bestimmt über die
Voraussetzungen und Bedingungen zum Bestand von Gemeinden, deren Er-
richtung und Auflösung, deren innere Organisation und enthält Grundsätze
für die Einsetzung und die Befugnisse des Rabbinats. Bezüglich der Be-
fähigung zum Rabbiner wird der Nachweis allgemeiner Bildung gefordert,
das Maß derselben soll mit Rücksicht auf die in den einzelnen Ländern be-
stehenden Verhältnisse der näheren Bestimmung des Kultusministers unterliegen.
27. März. (Österreich.) Wiener Gemeinderats-
wahlen. Das Ergebnis der an diesem Tage abgeschlossenen Wahlen
ist der Eintritt von 4 neugewählten Antisemiten an Stelle von 2
Deutsch-Liberalen und 2 gemäßigten Demokraten, ferner von 2
tschechischen Demokraten für 2 gemäßigte Demokraten (für den 3.
Wahlkörper der Josephstadt). Die Zahl der Antisemiten im Ge-
meinderat ist somit auf 8 gestiegen.
Europ. Geschichtskalender. XXIX. Bd. 16