Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 30.) 19 
nicht aus der Schweiz ausgewiesen zu werden, hat der Polizeiagent Schröder 
mit preußischem Gelde das Schweizer Bürgerrecht erworben. Dieser Schröder 
wußte sich zum Präsidenten der Schreinergewerkschaft zu machen und benützte 
diese Stellung zu Denunziationen. Er verkehrte intim mit Kammerer, Stell- 
macher und Neve. Er stiftete überall in der Schweiz die Arbeiter zu Streik 
mit unerfüllbaren Forderungen an. Redner schildert dann die Entlarvung 
Schröders durch seine Parteigenossen, wobei man bei ihm unter Hobelspänen 
die schon von Singer erwähnte Dynamitkiste fand. Erst dann, als Gefahr 
war, daß er Verbrechen anstiften werde, verhaftete ihn die Schweizer Be- 
hörde. Redner charakterisiert hierauf den in der Schweiz wegen Anarchismus 
verhafteten badischen Hauptmann v. Ehrenberg. Derselbe war früher ein 
Anhänger der Volkspartei und Preußenfeind, später Sozialdemokrat. Bebel 
und Genossen hätten ihn aber, als er sie zu der „sozialdemokratischen Kriegs- 
kunst“ bekehren wollte, abblitzen lassen. Er sei ein exzentrischer Mensch. 
(Minister v. Puttkamer ruft: Verrückt ist er. — Bebel:) Das ist Ihr Glück, 
daß er verrückt ist oder wenigstens dafür erklärt wird! Später sei Ehren- 
berg aus Rache preußischer Polizeiagent geworden. (Puttkamer: Das ist 
falsch!) Redner teilt mit, daß Ehrenberg zugleich der französischen Regie- 
rung Mittel für die Ueberrumpelung  Wesels und die Insurgierung der 
deutschen Sozialdemokratie im Rücken der deutschen Armee für den Fall eines 
Krieges angeboten habe. Ein anderer Polizeiagent, der frühere bayerische 
Hauptmann Trautner, habe sich später den Sozialdemokraten selbst verkaufen 
wollen. Auch Peukert, der in der Londoner „Autonomie“ zu anarchistischen 
Gewaltthaten aufreize, sei Polizeiagent, welcher Verfolgte den preußischen 
Behörden ausgeliefert habe. Redner behauptet ferner, daß preußische Polizei- 
agenten die Bestechung von schweizerischen Beamten, auf welche jetzt die preu- 
ßische Regierung so schlecht zu sprechen sei, versucht hatten. Ein solches 
System müsse zu schweren internationalen Verwicklungen und der Schädigung 
des deutschen Ansehens führen. Bebel schließt: Es wird noch eine Zeit 
kommen, wo Sie es bitter bereuen werden, diesem fluchwürdigsten aller Ge- 
setze jemals zugestimmt zu haben! 
Zum Schlusse erklärt Windthorst (Z.): In der Kommission würde 
seine Partei ihre alten Anträge wiederholen. Mindestens verlange sie die 
Aufhebung des kleinen Belagerungszustandes. Werde dies angenommen, so 
würde das Zentrum das Gesetz noch auf einige Zeit verlängern; würden 
seine Anträge abgelehnt, so werde ein Teil des Zentrums gegen jede Ver- 
längerung, ein anderer Teil für die Verlängerung des ungeänderten Gesetzes 
stimmen, in der Voraussetzung, daß die Regierung die Zwischenzeit benütze, 
das Gesetz durch bessere Bestimmungen zu ersetzen. 
30. Januar. (Sozialistenprozeß.) In einem gegen pol- 
nische Sozialisten wegen Teilnahme an geheimen Verbindungen zu 
Posen angestrengten Prozesse werden im ganzen 13 Angeklagte, da- 
von die 6 Hauptbeschuldigten zu Gefängnisstrafen von 1½ bis 2  
Jahren verurteilt; 4 werden freigesprochen. 
Interessant ist der Prozeß besonders durch die Enthüllung der Tä- 
tigkeit eines Mädchens Michalina Zielonacka, welche mit mehreren der An- 
geklagten in intimen Beziehungen gestanden und die Agitation durch einen 
mit diesen und selbst Ausländern unterhaltenen umfangreichen Briefwechsel 
eifrigst unterstützt hatte. Ein anderer  Angeklagter wird durch einen aufge- 
fundenen Zettel überführt, mit den belgischen Revolutionären, namentlich 
Pierre Fluce in Verviers, einem Hauptführer der Internationale und Präsi- 
denten des belgischen Vereins „Vorwärts", in Beziehungen gestanden zu haben. 
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