Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

20 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 31.—Febr. 1.—9.) 
31. Januar. (Berliner Stadtmission.) Die Zeitungen 
veröffentlichen mit Genehmigung des Prinzen und der Prinzessin 
Wilhelm einen Hilfsaufruf zum besten der Stadtmission für Berlin 
und die andern Großstädte. Derselbe trägt etwa 200 Unterschriften 
aus allen Provinzen hauptsächlich von hervorragenden Adeligen, 
hohen Beamten, Geistlichen und Professoren, darunter auch die der 
Abg. v. Bennigsen, Miquel, v. Benda und Marquardsen. 
In dem Aufrufe wird gesagt, daß alle auf christlichem, evangelischem 
Grunde stehenden Anschauungen zu einem gemeinsamen Liebeswerke vereinigt 
werden sollen. Sodann wird ein Bericht über die Notlare der Stadtmission 
gegeben und an die Versammlung erinnert, welche, bestehend aus Männern 
verschiedener politischer und kirchlicher Richtung, im Beisein des Prinzen und 
der Prinzessin Wilhelm stattfand. 
1.—9. bzw. 23. Februar und 19. März. (Verfassungs- 
änderung.) Reichstag: Beratung des von den Konservativen, 
der deutschen Reichspartei und den Nationalliberalen eingebrachten 
Gesetzantrages auf Einführung 5jähriger Legislaturperioden 
(vgl. Gesch.-Kal. 1887 Xll. 2). 
Bamberger (ds.) wendet sich hauptsächlich gegen die Nationallibe– 
ralen, welche sich ganz zum Vorspann der Konservativen gemacht hätten; 
auch er wäre noch immer für 5jährige Wahlperioden, wie er früher dafür 
eingetreten sei, aber nicht unter den augenblicklichen Verhältnissen. Er schließt: 
Ich sehe die Zeit kommen, wo ich bedauern werde, daß der Reichskanzler 
nicht da ist, um das Übermaß der Reaktion zu zügeln, welches jetzt mit 
Hilfe der Nationalliberalen entfesselt ist. Minister v. Bötticher erklärt, 
die Regierungen verhalten sich zunächst dem Antrage gegenüber wie zu allen 
Initiativanträgen neutral. 
v. Bennigsen (nl.) erwidert Bamberger: Nach der Rede seines ehe- 
maligen Parteigenossen hätte er ein ungeheures reaktionäres Sündenregister 
der Nationalliberalen erwartet, habe aber nur vom Septennat und vom 
Kunstbuttergesetze gehört. Das Kartell mit den Konservativen sei lediglich 
für das Septennat geschlossen worden. Redner erklärt sich die Verbitterung 
Bambergers über die heutigen Zustände nur dadurch, daß derselbe Schutz- 
zoll mit Reaktion, Freihandel mit Freiheit zusammenwerfe. Derselbe ver- 
gesse, daß dies nie zusammenfiel, daß die größten Freihändler Napoleon, die 
amerikanischen Sklavenbarone und die Kreuzzeitung waren, während die nord- 
amerikanischen Republikaner und Thiers den Schutzzoll vertraten. Durch 
diese Verquickung habe Bamberger im Jahre 1879 die tiefe Spaltung zwi- 
schen den deutschen Liberalen verschuldet, worunter Deutschland noch heute 
leide. Er (Bennigsen) selbst habe damals nur für den verschwindend geringen 
Kornzoll von 25 Pfennigen gestimmt, später gegen jeden agrarischen Zoll, 
und er mißbillige allerdings, daß man jetzt so weit auf der Bahn agrarischer 
Schutzzölle vorgeschritten sei. Diese Richtung müsse bald rückläufig werden, 
doch mache er dafür die Freihändler verantwortlich, welche 1876 mutwillig 
den letzten Rest des Eisenzolles aufhoben und so die Industriellen in die 
Arme der Agrarier trieben. Bezüglich des Kartells mit den Konservativen 
beruhigt Redner Windthorst wegen der Befürchtung weiterer Pläne. Das 
Kartell sei nur, wiederhole er, für das Septennat geschlossen worden. Eine 
Änderung des nun einmal Millionen zum Bedürfnisse gewordenen allge-
	        
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