Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

276 Die Österreichisch-Ungarische Monarchie. (Oktober Mitte.) 
minister, dessen Portefeuille Frhr. v. Prazak provisorisch verwaltet 
hatte, wird Graf Friedrich Schönborn, der Statthalter von 
Mähren, ernannt. 
Mitte Oktober. (Das polnisch-tschechische Bündnis.) 
In der polnischen Monatsschrift „Przeglond Polski“, welche von 
den Grafen Tarnowski, Potocki und dem Reichsratsabgeordneten 
Bobrzynski herausgegeben wird, erscheint ein Artikel, welcher aus- 
führt, daß die Polen das Bündnis mit den Tschechen aufgeben 
werden: 
1) wenn die Tschechenführer die jungtschechiche Agitation und ihre 
panslawistischen Umtriebe nicht vollkommen unterdrücken werden; 2) wenn 
sie fortfahren, sich in die Zustände der anderen Reichshälfte zu mischen und 
die slawischen und russophilen Agitatoren à la Stroßmayer zu unterstützen, 
wodurch der verfassungsmäßige Ausgleich mit Ungarn gefährdet werden kann; 
3) und vor allem, wenn die Vertreter des tschechischen Volkes auch weiterhin 
das deutsch-österreichische Bündnis bekämpfen und an dessen Stelle eine An- 
näherung an Rußland herbeiführen wollen. 
Mitte Oktober. (Österreich-Ungarn: Die deutsche 
Kaiserreise.) Die Aufnahme, welche Kaiser Wilhelm bei seinem 
Besuch in Österreich-Ungarn (vgl. Deutsches Reich S. 144) findet, 
ist eine in den verschiedenen Ländern verschiedene. In Pest, wo 
Graf Herbert Bismarck dem Minister-Präsidenten Tisza den Schwar- 
zen Adlerorden überbringt, wird dieser enthusiastisch aufgenommen. 
Selbst die oppositionelle Presse widmet ihm sympathische Artikel. 
So schreibt der „Pesti Naplo“ u. a.: 
„Das Ungartum begegnet dem Namen Bismarck nur mit Ehrerbie- 
tung und Sympathie. Die öffentliche Meinung dieses Landes begeisterte sich 
Jahrzehnte hindurch für jene Ideen, die Fürst Bismarck verwirklichte. Die 
nationale Einigung Deutschlands hatte schon in den vierziger Jahren eifrige 
Anhänger in Ungarn, und das innige Verhältnis des neugeschaffenen deutschen 
Reiches zu Österreich-Ungarn begegnet nirgends aufrichtigerer Anhänglich- 
keit, als unter den Ungarn. Der Besuch des Grafen Bismarck ist ein Be- 
weis dafür, daß man in Deutschland diese Gefühle der öffentlichen Meinung 
Ungarns kennt und würdigt. 
Wir bedauern, daß Kaiser Wilhelm dieses Mal nicht nach Ungarn 
gekommen ist, wir freuen uns aber, daß Graf Herbert Bismarck uns besucht 
hat, derselbe kennt die Sympathien seines Vaters und befolgt sie, indem er 
nach Ungarn kam. 
Wir aber glauben, daß Graf Bismarck der geistige Erbe des großen 
Kanzlers auch in Bezug auf Ungarn der Depositär der politischen Vermächt- 
nisse seines Vaters sein wird.“ 
Wenig sympathisch lauten dagegen die Kundgebungen der 
tschechischen Parteien. So behaupten die jungtschechischen „Narodni 
Listy“, die Reise des deutschen Kaisers habe den Zweck gehabt, Cis- 
leithanien in einen staatsrechtlichen Verband zu Deutschland zu
	        
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