414 Aebersicht der politischen Entwickelung des Jahres 1888.
der Gegenwart mächtig ist, beschließen die beiden Kaiser, „indem
Sie einander feierlich versprechen, daß Sie Ihrem rein defensiven
Abkommen eine aggressive Tendenz nach keiner Richtung jemals
beilegen wollen, einen Bund des Friedens und der gegenseitigen
Verteidigung zu knüpfen.“ Dieser Bund verpflichtet die beiden
Kontrahenten, einander mit der gesamten Kriegsmacht ihrer Reiche
beizustehen, wenn einer der beiden seitens Rußlands angegriffen
werden sollte, ja wenn Rußland nur einen von ihnen, der im
Kampf mit einem dritten (Frankreich) begriffen ist, durch militärische
Maßnahmen bedrohen sollte. Drei Tage nach dieser Veröffentlichung
stand auf der Tagesordnung des deutschen Reichstages die zweite
Lesung des Wehrgesetzes mit der Anleihe-Vorlage von 280 Millionen
(vgl. Jahrgang 1887; 16. Dezember). Schon lange erwartete man,
daß der Reichskanzler bei dieser Gelegenheit eine große Rede über
die auswärtige Politik halten werde. Die Publikation des Ver-
trages steigerte die Spannung ins Ungeheure. Wie sollte es mög-
lich sein, eine Vermehrung der Armee um 700,000 Mann in diesem
Augenblick zu begründen, ohne geradezu den Krieg zu provozieren?
Seit Wochen und Monaten waren die offiziösen und amtlichen
Blätter voll von Berechnungen, die eine Art langsamer Movbili-
sierung der russischen Armee an unseren Grenzen darthaten. Jeder-
mann wußte, daß hier der wahre Grund aller Kriegsbesorgnisse
zu suchen war; was konnte, wenn der Kanzler das von der Tri-
büne des Reichstages herab verkündete, der Erfolg sein? Oder
wenn er etwa gar noch weitere und direkte Gegenmaßregeln an-
meldete? Im besten Fall, wenn er sich Mühe gab, trotz allem und
allem die Friedenshoffnungen aufrecht zu erhalten, durch welche
Mittel war das noch zu bewerkstelligen?
Der Kanzler wußte es wirklich fertig zu bringen, zur Em-
pfehlung einer Heeresverstärkung eine Friedensrede zu halten. Im
Nu war ein ganzes Gebäude von Fiktionen errichtet, das in all
seiner spinnwebenen Durchsichtigkeit doch genügte, die notwendige
Heeresverstärkung und ein freundschaftliches Verhältnis mit Ruß-
land nebeneinander zu beherbergen. Die europäische Geschichte des
ganzen Jahrhunderts wurde durchgegangen, um scheinbar zu be-
weisen, daß zu allen Zeiten Kriegsgefahr vorhanden gewesen sei