Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

Uebersicht der politischen Eutwichelung des Jahres 1888. 415 
und die Heeresverstärkung keineswegs durch eine momentane Ge- 
fahr, sondern durch die zentrale Lage Deutschlands zwischen allen 
großen Militärmächten generell begründet werde. Die Verschiebung 
der russischen Truppen gegen Westen wurde dargestellt als eine 
Bewegung, die zwar Gegenmaßregeln erheische, die aber gewiß doch 
aus ganz anderen Motiven entsprungen sein würde, als aus der Ab- 
sicht eines Ueberfalls. Die persönlichen Versicherungen des Kaisers 
Alexander seien Bürgschaft dafür, daß er sich mit keinerlei Angriffs- 
gedanken trage. Deutschland seinerseits könne unmöglich an einen 
Angriff denken, selbst wenn er ihm noch so große militärische Vor- 
teile brächte, weil es damit seine Hauptstärke, die innigste Zu- 
stimmung des gesamten Volkes, die nur einem Verteidigungskrieg 
zu teil werden würde, einbüße. In einem solchen Verteidigungs- 
krieg aber werde Deutschland unüberwindlich sein; Drohungen 
machten ihm deshalb keinerlei Eindruck. „Wir Deutsche fürchten 
Gott, sonst aber nichts in der Welt.“ Auf diese Weise gelang es 
dem Kanzler, die Zuversicht des eigenen Volkes in der schweren 
Gefahr, der es entgegenzugehen schien, zu heben, ohne den Gegner 
herabzusetzen und dadurch zu beleidigen und zu reizen. Die Rede, 
die einen Sturm der Begeisterung in Deutschland erregte (vgl. 
Bayern 7. Febr.), wirkte dennoch gleichzeitig beruhigend nach außen 
— namentlich in Verbindung mit der grandiosen Demonstration einer 
einstimmigen debattelosen Bewilligung der gesamten Forderung der 
Regierung durch den Reichstag, der Aufstellung von 700,000 Tria- 
riern, wie der Kanzler sich ausdrückte. 
Von dieser Zeit an ließ die allgemeine Beunruhigung wirk- 
lich einigermaßen nach, so daß das Jahr 1888 im ganzen bei 
weitem nicht einen so kriegsdrohenden Anblick darbietet, wie das 
vorhergehende. Die Ereignisse, die nunmehr in Deutschland ein- 
traten, konnten auch nur dazu beitragen, nicht nur bei den Deutschen, 
sondern selbst bei ihren Gegnern die Kriegsgedanken zu ersticken. 
Nach kurzem Krankenlager starb am 9. März „Kaiser Wil- 
helm der Alte“, in schlechthin einzig in der Weltgeschichte dastehender 
Weise betrauert nicht nur von seinem Volk, sondern von allen 
Nationen der Erde. Ihm folgte sein Sohn Kaiser Friedrich III., 
den selber schon die Schatten des Todes umschwebten, so daß ganz
	        
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