416 ebersicht der peolitisczen Entwickelunz des Jahres 1888.
Europa mit Bangen der Unsicherheit der nächsten Zukunft entgegen-
sah. Ein unbestimmter Ruf von gewaltigem Ehrgeiz und Durst
nach kriegerischem Ruhm ging seinem Nachfolger, dem jungen Wil-
helm II. voraus. (Vgl. Rede v. 8. Febr.) Als dieser, am 15. Juni,
wirklich den Thron seiner Bäter bestieg, bekannte er sich zwar in
seiner ersten Kundgebung nach Hohenzollernart vor allem als Sol-
datenkönig, ergriff dann aber sofort ein großartiges, aus der
Situation eines jugendlich frischen, eben zum Thron gelangten
Kaisers geschöpftes Mittel, um durch eine unwiderstehliche Demon-
stration den entscheidenden Mann, den Kaiser von Rußland, auf
Reisen der Seite der Erhaltung des Friedens festzubannen. Er verkündigte,
Kailer daß er bei einer Anzahl befreundeter Suveräne einen persönlichen
helms U. Besuch abstatten werde und der erste dieser Besuche solle weder
einem, deutschen Fürsten, noch einem der Alliierten des Dreibundes,
sondern dem Zaren gelten.
Nachdem zunächst das Erscheinen sämtlicher deutscher Fürsten
in Berlin zur Eröffnung des Reichstages den festen Zusammenhalt
Alldeutschlands auch unter dem jungen Kaiser aller Welt vor die
Augen geführt hatte, trat Kaiser Wilhelm vier Wochen nach seiner
Thronbesteigung die Fahrt nach Petersburg an. Gewiß war es
eine außerordentliche Kurtoisie, dieser Antrittsbesuch bei einem Hof,
der sich seit langem nicht mehr freundlich zu Deutschland gestellt
hatte — aber der Besuch erfolgte in einer Form, die die Macht
und das Selbstbewußtsein des deutschen Kaisertums so imponierend
zur Schau trug, daß wiederum das innerlich Entgegengesetzte gleich-
zeitig erreicht wurde: Entgegenkommen ohne Demütigung, Stolz
ohne Herablassung. Nicht als gewöhnlicher hoher Reisender auf der
Eisenbahn erschien der junge Kaiser bei dem Vetter im Norden,
sondern von einer ganzen Flotte begleitet zu Schiff. Sein Bruder,
Prinz Heinrich, kommandierte das Admiralschiff; Graf Bismarck
war im Gefolge. Der russische Hof, die Bevölkerung der Haupt-
stadt, selbst die panslawistische Presse konnten nicht anders, als mit
einer über die gewöhnliche Höflichkeit hinausgehenden Wärme und
Hingerissenheit den erlauchten Gast zu empfangen und zu feiern. Auf
dem Rückweg wurde auch den beiden andern nordischen Reichen ein
Besuch abgestattet. Der schwedische Hof hatte schon seit langem