Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

Aebersicht der politischen Entwickelung des Jahres 1888. 421 
Von je ist in monarchischen Staaten die Erfahrung gemacht Kaiser 
worden, daß die Thronfolger sich in einen gewissen Gegensatz —e 
den regierenden Suveränen stellen. Sehr häufig ist dieser Gegen- 
satz zu einer ausgesprochenen Opposition, nicht selten bis zu leiden- 
schaftlichen, selbst blutigen Konflikten gesteigert worden. Auch zwi- 
schen Kaiser Wilhelm I. und seinem Sohn existierten naturgemäß 
abweichende Anschauungen, aber es war das Heil Deutschlands, 
daß diese Differenzen einerseits nicht sehr scharf waren oder doch 
durch den Gang der Ereignisse von selbst großenteils ausgeglichen 
wurden, andrerseits der Kronprinz von einer solchen Selbstlosigkeit 
und Selbstbeherrschung war, daß keinerlei üble Rückwirkung wäh- 
rend der Regierung Wilhelms I. daraus entstand. Das ist ein 
um so schöneres Zeugnis für den Sohn, als die Leistungen, die 
er als Sieger in so vielen Schlachten bereits aufzuweisen hatte, 
der Zauber, den seine Persönlichkeit ausübte, endlich das Alter, 
das er, immer noch in der wartenden Stellung des Kronprinzen 
erreichte, die Versuchung ihm hätte doppelt nahe führen können. 
Erschwert, nach anderer Seite aber auch wieder sehr erleichtert 
wurde dem Kronprinzen seine Stellungnahme dadurch, daß die 
Politik seines Vaters, je älter dieser wurde, destomehr sich in der 
Person seines Reichskanzlers, des Fürsten Bismarck verkörperte. 
Immer wird ein nicht geringer Teil der herkömmlichen Kronprinzen- 
Opposition nicht auf wirklich abweichende Grundsätze, sondern auf 
den einfachen Gegensatz des Akteurs und des bloßen Zuschauers 
zurückzuführen sein. Kronprinzen, die zur Regierung kommen, stellen 
sich häufig recht anders dar, als vorher vermutet wurde. Das 
süße Schwelgen in den Schönheiten der Idee hört auf und die 
harte Arbeit in den Sachen beginnt. Die Existenz eines Staats- 
mannes wie den Fürsten Bismarck hatte den deutschen Kronprinzen 
schon lange gezwungen, seinen politischen Vorstellungen ein rea- 
listisch-nüchternes Element einzuverweben, nämlich die Frage, wie 
er sich als Kaiser einmal zu dem Kanzler stellen werde. Die große 
Aufgabe für jeden Monarchen, der einen hervorragenden Staats- 
mann an seiner Seite hat, ist immer, seine eigene Persönlichkeit 
neben ihm zu wahren, sich nicht von jenem in den Schatten stellen 
zu lassen. Kaiser Wilhelms I. eigentliche Größe ist, daß ihm das
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.