Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

422 Mebersicht der politisczen Entwickelung des Jahres 1888. 
gelungen, daß er neben und über einem Bismarck und Moltke der 
König geblieben ist. Unendlich viel schwieriger als für ihn mußte 
die Aufgabe aber noch für seinen Sohn sein. Gleich bei der Ueber- 
nahme der Regierung mußte es irgendwie offenbar werden, wie der 
neue Suverän sich zu dem Staatsmann der Epoche stellen, ob er 
ihn behandeln werde, wie andere Minister und treue Diener seines 
Vaters auch, ob er ihm wie bisher eine besondere Stellung ein- 
räumen, wie er daneben seine eigene Individualität, seine eigenen 
Ansichten zur Geltung bringen werde. 
Seit langem mußten sich die Gedanken des Kronprinzen mit 
diesen Möglichkeiten und ihrer Gestaltung beschäftigen. Um sich 
die Selbständigkeit seines Urteiles zu wahren, las er nicht nur 
regelmäßig die Zeitungen aller verschiedenen Richtungen, sondern 
verkehrte auch mit Männern, die, obgleich wenig oder garnicht 
direkt am öffentlichen Leben teilnehmend, der Politik des Reichs- 
kanzlers kritisch und ablehnend gegenüberstanden. Einer von diesen, 
Dr. Geffcken, ehemals Diplomat in hamburgischen Diensten, dann 
eine zeitlang Professor des Völkerrechtes in Straßburg, war ein 
doktrinärer Besserwisser der schlimmsten Sorte, der aber eine sehr 
geschickte Manier hatte, sich bei hohen Persönlichkeiten Ansehen zu 
verschaffen. Er war, da er ja die Geheimnisse der wahren Politik 
selber zu besitzen glaubte, von einem fanatischen Hasse gegen den 
Fürsten Bismarck erfüllt; ob dieser Haß soweit ging, daß er den 
Kanzler aus seinem Amt zu entfernen gewünscht hätte, ist nicht 
festgestellt. Es hat auch keine Bedeutung, da der Kronprinz völlig 
klar war in der Erkenntnis, daß er unter keinen Umständen das 
Reich der staatsmännischen Kraft des Fürsten Bismarck berauben 
dürfe und ihm das Problem nur in dem Modus des würdigen 
Nebeneinanderlebens bestand. Geffcken selbst kannte diese Gesinnung 
seines hohen Gönners sehr wohl und war klug oder geschmeidig 
genug, sich ihr zu akkomodieren. Ja, er war es, der dem Kron- 
prinzen, als im Jahre 1885 das Ableben des Kaisers Wilhelm 
nahe bevorzustehen schien, die Form vorzuschlagen wußte, die den 
Charakter der neuen Regierung passend zum Ausdruck bringen 
konnte. Er brachte ein Schreiben an den Reichskanzler in Vor- 
schlag, welches ihm den Dank des neuen Suveräns für seine bis-
	        
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