Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

Kaiser 
Frie- 
drichs 
Tage- 
buch. 
430 Mebersicht der pelitisczhen Entwicelung des Jahres 1888. 
des Feldmarschalls trat sein bisheriger Gehilfe, der General Graf 
Waldersee. 
Ende September veröffentlichte die „Deutsche Rundschau“ einen 
Auszug aus dem Tagebuche, welches Kaiser Friedrich während des 
Krieges von 1870 geführt hatte. Es ist ein herrliches Denkmal 
der großen Zeit, das, wie es die Natur solcher Tagebuch-Aufzeich- 
nungen ist, in der subjektiven Auffassung des Moments das Gewal- 
tigste neben dem Kleinsten, die welthistorischen Gegensätze und die 
kleinen Schwächen der Handelnden fixiert. Die zukünftige Generation 
unseres Volkes wird es als eine Perle der deutschen Literatur ver- 
ehren. Der Standpunkt des Verfaffers ist derjenige, den damals 
alle Anhänger der deutschen Idee verfochten: sie forderten strengere 
Einheit und waren unzufrieden mit den lockeren Formen des neuen 
Reiches. Scharf hebt sich dieser nationale Einheitsgedanke ab von 
dem altpreußischen Skeptizismus des Königs und den vorsichtigen 
realpolitischen Berechnungen des Kanzlers. Daß für die Schaffung 
des deutschen Reiches alle diese Kräfte und Gedanken einer so nötig 
waren wie der andere, daß Deutschland weder auferstanden wäre 
ohne den Glauben an den Barbarossa im Kyffhäuser, noch ohne den 
preußischen Exerzierplatz, ja daß zuletzt gerade die Erfüllung des 
Ideals jener Richtung nur durch die Vertreter dieser sich vollziehen 
konnte, das ist schon heute Niemand verborgen, der tiefer in das 
Wachsen und Werden der großen Völker und Staaten zu blicken 
vermag. Der Gegenwart wird es freilich immer schwer, den Grad 
der Berechtigung entgegengesetzter Bestrebungen zu erkennen, und die 
Krisis des Jahres 1870 liegt uns heute noch so nahe, daß die 
öffentliche Meinung fie schwerlich ganz unbefangen zu beurteilen 
vermag: was ihr zuerst in die Augen fiel in dem „Tagebuch“, war 
die Kritik und die Opposition, der Gegensatz zwischen dem Kron- 
prinzen und dem König, namentlich aber zwischen dem Kronprinzen 
und dem Kanzler. Trotzdem wäre es vielleicht möglich gewesen, 
durch verständige Anleitung der richtigen historischen Auffassung 
zum Durchbruch zu verhelfen, als der Reichskanzler selbst durch 
einen der schwersten Mißgriffe in seiner langen politischen Lauf- 
bahn diesen Weg verschloß. Man wußte anfänglich nicht, woher 
die Publikation gekommen sei. Wer konnte im Besitz eines solchen
	        
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