Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

56 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 9.) 
wältigender Übereinstimmung der Trauer im deutschen Herrscher- 
hause und Volke sich anschließen. 
Im Reichstage verkündet der Reichskanzler Fürst Bis- 
marck das Ereignis mit folgender in tiefster Erschütterung ge- 
sprochener Rede: 
„Mir liegt die traurige Pflicht ob, Ihnen die amtliche Mitteilung 
von dem zu machen, was Sie bereits tatsächlich wissen werden, daß Se. 
Majestät der Kaiser Wilhelm heute Vormittag um ½9 Uhr zu seinen Vä- 
tern entschlafen ist. Infolge dieses Ereignisses ist die preußische Krone und 
damit nach Artikel 11 der Reichsverfassung die deutsche Kaiserwürde auf 
Se. Majestät Friedrich III., König von Preußen, übergegangen. Nach den 
mir zugegangenen telegraphischen Nachrichten darf ich annehmen, daß Se. 
Majestät der regierende Kaiser und König morgen von San Remo abreisen 
und in der gegebenen Zeit hier in Berlin eintreffen wird. Ich hatte (Fürst 
Bismarck wischt sich die Tränen von den Augen) von dem Hochseligen Herrn 
in seinen letzten Tagen in Bethätigung der Arbeitskraft, die ihn nur mit 
dem Leben verlassen hat, noch die ünterschrift erhalten, welche vor mir liegt 
und welche mich ermächtigt, den Reichstag in der üblichen Zeit nach Al- 
machung seiner Geschäfte, d. h. also heute oder morgen zu schließen. Ich 
hatte die Bitte an Seine Majestät gerichtet, nur mit den Anfangsbuchstaben 
des Namens noch zu unterzeichnen, Seine Majestät hatte mir darauf erwi- 
dert, daß Sie glaubten, den vollen Namen noch schreiben zu können, infolge 
dessen liegt dieses historische Aktenstück Seiner Majestät des Kaisers noch 
vollständig unterzeichnet vor mir. Nach den obwaltenden Umständen nehme 
ich an, daß es den Wünschen der Mitglieder des Reichstages ebenso wie 
denen der verbündeten Regierungen entsprechen wird, daß der Reichstag noch 
nicht auseinandergeht, sondern zusammenbleibt, bis nach dem Eintreffen Sr. 
Majestät des Kaisers. Ich mache deshalb von dieser Allerhöchsten Ermäch- 
tigung weiter keinen Gebrauch, als daß ich dieselbe als historisches Doku- 
ment zu den Akten gebe und den Herrn Präsidenten bitte, die Entschlüsse, 
welche den Bestimmungen und Überzeugungen des Reichstags entsprechen, 
in dieser Richtung herbeizuführen. Es steht mir nicht zu, meine Herren, 
von dieser amtlichen Stelle aus den persönlichen Gefühlen Ausdruck zu geben, 
mit welchen mich das Abscheiden, das Hinscheiden meines Herrn erfüllt, das 
Ausscheiden des ersten deutschen Kaisers aus unserer Mitte. Es ist dazu 
kein Bedürfnis, denn die Gefühle, die mich bewegen — die leben in den 
Herzen eines jeden Deutschen! Aber eines glaube ich Ihnen doch nicht vor- 
enthalten zu dürfen, nicht von meinen Empfindungen, sondern von meinen 
Erlebnissen, daß inmitten der schweren Schickungen, welche der von uns ge- 
schiedene Herr in seinem Hause noch erlebt hat, es zwei Tatsachen waren, 
welche ihn mit Befriedigung und Trost erfüllten. Die eine war diejenige, 
daß die Leiden seines einzigen Sohnes und Nachfolgers, unseres jetzigen re- 
gierenden Herrn, in der ganzen Welt, nicht bloß in Deutschland, sondern 
über alle Weltteile hinaus große Teilnahme hervorgerufen haben. Ich habe 
noch heute ein Telegramm aus New-York erhalten, das beweist, welches Ver- 
trauen sich die Dynastie des deutschen Kaiserhauses bei allen Nationen er- 
worben hat. Es ist dies ein Erbteil, kann ich wohl sagen, was des Kaisers 
lange Regierung dem deutschen Volke hinterläßt. Das Vertrauen, welches 
die Dynastie erworben hat, wird sich auf die Nation übertragen! Die zweite 
Richtung, in der Seine Majestät Trost in manchen schweren Schickungen 
empfand, war diejenige, daß der Kaiser auf die Entwickelung seiner Lebens- 
aufgabe, der Herstellung und Konsolidierung der Nationalität des Volkes, 
  
 
	        
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