Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 9.) 57
dem er als deutscher Fürst angehört hat, daß der Kaiser auf die Ent-
wickelung, welche die Lösung dieser Aufgabe inzwischen genommen hatte,
mit einer Befriedigung zurückblickte, die den Abend seines Lebens verschönt
und beleuchtet hat. Es trug dazu namentlich in den letzten Wochen die
Tatsache bei, daß mit einer seltenen Einstimmigkeit aller Dynastien, aller
verbündeten Regierungen, aller Stämme in Deutschland, aller Abteilungen
des Reichstags dasjenige beschlossen worden, was für die Sicherstellung der
Zukunft des deutschen Reiches auf jede Gefahr hin, die uns bedrohen konnte,
als Bedürfnis von den verbündeten Regierungen empfunden wurde. Diese
Wahrnehmung hat Seine Majestät mit großem Troste erfüllt, und noch in
der letzten Beziehung, die ich zu meinem dahingeschiedenen Herrn gehabt
habe — es war gestern —, hat er darauf Bezug genommen, wie ihn dieser
Beweis der Einheit der gesamten deutschen Nation, wie er durch die Volks-
vertretung hier verkündet worden ist, gestärkt und erfreut hat. Ich glaube,
meine Herren, es wird für Sie alle erwünscht sein, das Zeugnis, was ich
aus eigener Wahrnehmung für die letzten Stimmungen unseres dahingeschie-
denen Herrn ablegen kann, mit in Ihre Heimat zu nehmen, weil jeder ein-
zelne von Ihnen einen Anteil an dem Verdienst hat, was ihm zu Grunde
liegt. Meine Herren! Die heldenmütige Tapferkeit, das nationale, hoch-
gespannte Ehrgefühl und vor allen Dingen die treue, arbeitsame Pflichter-
füllung im Dienste des Vaterlandes und die Liebe zum Vaterlande, die in
unserem dahingeschiedenen Herrn verkörpert war — mögen sie ein unzerstör-
bares Erbteil unserer Nation sein, das der aus unserer Mitte geschiedene
Kaiser uns hinterlassen hat! (Fürst Bismarck macht, von hörbarem Schluchzen
unterbrochen, wiederholt und besonders am Schlusse seiner Rede oft sekunden-
lange Pausen.) Das hoffe ich zu Gott, daß dieses Erbteil von uns allen,
die wir an den Geschäften des Vaterlandes mitzuwirken haben, in Hinge-
bung, Arbeitsamkeit und Pflichttreue treu bewahrt wird!“ (Tiefes Schwei-
gen, lange Pause; der Reichskanzler mit vor das Gesicht gehaltener Hand
lehnt sich in seinen Sessel zurück.)
Der Präsident von Wedell-Piesdorf ergreift hierauf
das Wort:
Meine Herren! Der große Kaiser, der Deutschlands Einigkeit be-
gründet hat, ist tot! Kaiser Wilhelm, den das deutsche Volk wie einen
Vater liebte und verehrte, ist nicht mehr unter uns! Keines Menschen Mund
kann dem Schmerze Ausdruck geben, der ganz Deutschland erfüllt. Wir
beugen uns in Demut unter Gottes Hand. Nur das eine glaube ich heute
noch aussprechen zu dürfen: in diesen schweren Tagen steht das deutsche Volk
in unverbrüchlicher Treue und Ergebenheit zu seinem neuen Kaiser und zu
seinem Hause. Möge Gott unser Vaterland beschützen, möge er insbesondere
unserem schwergeprüften Kaiser Friedrich seinen gnädigen Beistand gewähren.
Meine Herren, es ist uns unmöglich, unsere Geschäfte heute zu erledigen,
ich bitte Sie deshalb, die heutige Sitzung aufzuheben, mich zu ermächtigen,
die nächste Sitzung seiner Zeit anzuberaumen und die Tagesordnung festzu-
setzen. Hiermit ist der Reichstag einverstanden — ich schließe die Sitzung!
Im preußischen Abgeordnetenhause macht der Vizepräsident
des Staatsministeriums, Min. d. Innern v. Puttkamer die Mit-
teilung in folgenden Worten:
Ich habe die traurige Pflicht, dem Hohen Hause eine tiefschmerzliche
Mitteilung zu machen. Es hat Gott gefallen, Se. Majestät den Kaiser und
König Wilhelm, unsern Allergnädigsten Herrn, heut morgens 8 1/2 Uhr im
achtundzwanzigsten Jahre seiner glorreichen Regierung durch einen sanften