Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

70 Das deutsche Reich und seine eizelnen Glieder. (März 31.) 
Staatsgewalt oder als Verletzung der öffentlichen Ordnung bezeichneten Ver- 
brechen und Vergehen, wegen der in den §§ 196, 197 des Strafgesetzbuchs 
gedachten Beleidigungen, wegen der mittels der Presse begangenen oder in 
dem Reichsgesetz über die Presse vom 7. Mai 1874 (Reichs-Gesetzblatt Seite 
65) vorgesehenen Vergehen und Übertretungen, wegen der nach der Verord- 
nung vom 11. März 1850, betreffend das Versammlungs= und Vereinigungs- 
recht (Gesetz= Sammlung Seite 277), strafbaren Handlungen durch Erkenntnis 
oder Strafbefehl eines preußischen Zivilgerichts zu Freiheits= oder Geld- 
strafen rechtskräftig verurteilt sind, diese Strafen, soweit sie noch nicht voll- 
streckt sind, unter Niederschlagung der noch rückständigen Kosten in Gnaden 
erlassen, ihnen auch die etwa aberkannten bürgerlichen Ehrenrechte wieder- 
verleihen und die etwa ausgesprochene Zulässigkeit der Stellung unter Polizei- 
aufsicht aufheben. 
Ist wegen einer unter die vorstehende Bestimmung fallenden und wegen 
einer andern strafbaren Handlung auf eine Gesamtstrafe erkannt, so ist der 
wegen der ersteren Handlung verhängte Teil dieser Strafe als erlassen anzu- 
sehen, gleichviel, ob derselbe im Sinne des § 74 des Strafgesetzbuchs die 
erkannte schwerste Strafe oder deren Erhöhung darstellt. Im Zweifelsfalle 
ist durch den Justizminister Unsere Entschließung einzuholen. 
Auch wollen Wir die von Amts wegen zu stellenden Anträge des 
Justizministers bezüglich solcher Verurteilungen erwarten, welche erst nach 
dem heutigen Tage wegen einer vor demselben begangenen, unter die vor- 
stehende Bestimmung fallenden strafbaren Handlung erfolgen, oder welche 
erst nach diesem Tage rechtskräftig werden. 
II. Ferner wollen Wir denjenigen Personen, gegen welche bis zum 
heutigen Tage wegen Übertretungen Haft= oder Geldstrafen oder wegen 
anderer als der unter I bezeichneten Vergehen Freiheitsstrafen von nicht mehr 
als sechs Wochen oder Geldstrafen von nicht mehr als Einhundertfünfzig 
Mark oder beide Strafen vereinigt von einem preußischen Zivilgericht rechts- 
kräftig verhängt worden sind, diese Strafen, soweit sie noch nicht vollstreckt 
sind, und die noch rückständigen Kosten in Gnaden erlassen. 
Auf vorsätzliche Körperverletzung und auf Beleidigungen findet dies 
nur dann Anwendung, wenn der Verurteilte die Verzichtleistung des Ver- 
letzten auf Bestrafung beibringt. 
Haftstrafen bleiben von dieser Gnadenerweisung ausgeschlossen, sofern 
zugleich auf Überweisung an die Landes-Polizeibehörde erkannt ist. 
Ist in einer Entscheidung die Verurteilung wegen mehrerer strafbaren 
Handlungen ausgesprochen, so greift diese Gnadenerweisung nur Platz, sofern 
die Strafe insgesamt das oben bezeichnete Maß nicht übersteigt. 
III. Soweit dritten Personen aus einer Entscheidung gesetzlich ein 
Anspruch erwachsen ist, wie bei Forstdiebstählen an Gemeinde= oder Privat- 
eigentum (§ 34 des Gesetzes vom 15. April 1878, Gesetz-Sammlung Seite 
222) behält es dabei sein Bewenden. 
IV. Auf die von einem der gemeinschaftlichen Landgerichte zu Mei- 
ningen und Rudolstadt oder von einem der gemeinschaftlichen Schwurgerichte 
zu Meiningen und Gera erkannten Strafen findet dieser Erlaß Anwendung, 
sofern nach den mit den beteiligten Regierungen getroffenen Vereinbarungen 
die Ausübung des Begnadigungsrechts in dem betreffenden Falle Uns zusteht. 
Unser Staats-Ministerium hat für die schleunige Bekanntmachung und 
Ausführung dieses Erlasses Sorge zu tragen. 
Gegeben Charlottenburg, den 31. März 1888. 
Friedrich. 
von Bismarck. von Maybach. Lucius. von Friedberg. von Boetticher. 
von Goßler, von Scholz. Bronsart von Schellendorff.
	        
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