Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

72 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 1.—4.) 
1. April. (Toast des Kronprinzen Wilhelm.) Bei dem 
Diner, das am Ostersonntage der Reichskanzler Fürst Bismarck an- 
läßlich seines 73. Geburtsfestes gab, bringt Kronprinz Wilhelm 
einen Toast auf den Reichskanzler aus. 
Nach den ersten Zeitungsberichten sollte der Kronprinz gesagt haben, er 
wolle „bei so erhebender Gelegenheit ein Bild vorführen, wie er sich das 
Reich in seiner politischen und sozialen Lage, in seinen inneren und äußeren 
Beziehungen im gegenwärtigen Augenblicke vorstelle. Er vergleiche dasselbe 
einem Armeekorps, welches im Feldzuge seinen Höchstkommandierenden ver- 
loren und dessen erster Offizier schwer verwundet niederliegt. In diesem 
kritischen Augenblick richten sich 46 Millionen echter deutscher Herzen in Angst 
und Hoffnung nach der Fahne und deren Träger, von dem alles erwartet 
wird. Der Träger dieser Fahne ist aber unser erlauchter Fürst, unser großer 
Kanzler; er gehe uns voran, ihm folgen wir, er lebe hoch!“ 
Nach einiger Zeit erklärt jedoch die „Nordd. Allg. Ztg.“ den 
Wortlaut für ungenau und veröffentlicht als authentisch folgenden 
Text: 
„Euere Durchlaucht! Unter den 40 Jahren, welche Sie soeben er- 
wähnten, ist wohl keines so ernst und schwerwiegend gewesen, als das jetzige: 
Der Kaiser Wilhelm ist heimgegangen, dem Sie 27 Jahre lang treu gedient! 
Mit Begeisterung jubelt das Volk unserem jetzigen hohen Herrn zu, der Mit- 
begründer der Größe des jetzigen Vaterlandes ist. Ew. Durchlaucht werden 
Ihm wie wir alle mit derselben altdeutschen Mannestreue dienen, wie dem 
Dahingeschiedenen. Um mich eines militärischen Bildes zu bedienen, so sehe 
ich unsere jetzige Lage an, wie ein Regiment, das zum Sturm schreitet. Der 
Regimentskommandeur ist gefallen, der Nächste im Kommando reitet, obwohl. 
schwer getroffen, noch kühn voran. Da richten sich die Blicke auf die Fahne, 
die der Träger hoch emporschwenkt. So halten Ew. Durchlaucht das Reichs- 
panier empor. Möge es, das ist unser innigster Herzenswunsch, Ihnen noch 
lange vergönnt sein, in Gemeinschaft mit unserem geliebten und verehrten 
Kaiser das Reichsbanner hochzuhalten. Gott segne und schütze denselben und 
Ew. Durchlaucht!"“ 
4. April. (Dank-Erlaß Kaiser Friedrichs.) Der „Reichs- 
und Staatsanzeiger“ veröffentlicht folgenden, am 4. April unter- 
zeichneten Allerhöchsten Erlaß: 
Der Heimgang Meines geliebten Herrn Vaters, weiland Sr. Majestät 
des Kaisers und Königs Wilhelm, hat zu einer so überwältigenden Bewegung 
Anlaß gegeben, wie sie bisher kaum je erlebt worden ist. Um seinen ruhm- 
vollen Kaiser trauert einmütig das ganze deutsche Volk, das mit ihm den 
milden und gerechten Herrscher, den weisen und kraftvollen Lenker seiner Ge- 
schicke, den Wiederbegründer seiner Einigung verloren hat. Fast alle fremden 
Nationen auf dem weiten Erdenrund nehmen Anteil an diesem Verluste eines 
Fürsten, in dem sie den sicheren Hort des Friedens erkannten. So zahlreich, 
so mannigfaltig sind die Kundgebungen liebevoller Teilnahme, daß es erst 
jetzt nach Wochen möglich gewesen ist, einen Überblick über die große Fülle 
der Spenden zu gewinnen. In allen Teilen Deutschlands, in ganz Europa, 
selbst in fernen Weltteilen, wo nur deutsche Herzen schlagen, ist gewetteifert 
worden, dem teueren Entschlafenen die letzten Zeichen der Liebe und Ver- 
ehrung, wie sie Mein Hochseliger Herr Vater im Leben so oft erfahren, nun 
auch im Tode darzubringen. Ein erhebendes Denkmal bildet die Sammlung
	        
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