78 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April Anf.—Mitte.)
Unzutreffend ist die Annahme, daß diese Angelegenheit den Haupt-
egenstand der am Dienstag zwischen Ihrer Majestät der Kaiserin und dem
Fürsten Bismarck im Berliner Palais stattgefundenen Unterredung gebildet
hat; es handelte sich bei dieser Besprechung vielmehr im wesentlichen um
eine andere häusliche Angelegenheit der Königlichen Familie, die zu all-
seitiger Befriedigung geordnet ist.
Die „Nordd. Allg. Zeitung" druckt nur die Artikel der Köl-
nischen Zeitung „zur Information der Leser“ ab, sich jeden Kom-
mentars dazu enthaltend. Der „Berliner Börsen-Kourier“ schreibt
(11. April):
„Da der Kanzler entschlossen zu sein scheint, in nichts Kompromissen
zugänglich zu sein, so wird, wie man uns versichert, der Rücktritt des lei-
tenden Staatsmannes von den Geschäften als eine nicht allzuferne Eventualität
im Auge behalten werden müssen. In Wirklichkeit haben sich die Dinge
derart zugespitzt, daß sichs fragt: soll der Kaiser oder soll der Kanzler die
letzte ausschlaggebende Instanz sein? und zur Rettung des monarchischen Ge-
dankens in seiner vollen Klarheit wird der Monarch in Erfüllung seiner
verfassungsmäßigen Pflicht sich das Recht wahren, das erste und das letzte
Wort zu behalten. Daß in dem vorliegenden Falle nicht die Krone es war,
die den Streitfall schärfte, dafür spricht die Genesis des Konflikts. Es wurde
durch plötzliche Veröffentlichungen, die ohne Vorwissen des Kaisers geschahen,
der jetzige Wirrwarr herbeigeführt, noch ehe die Möglichkeit oder sogar die
Wahrscheinlichkeit einer völligen Verständigung ausgeschlossen war. Damit
ist derjenige Teil ins Unrecht gesetzt worden, der jede weitere ruhige und
streng sachliche Auseinandersetzung unmöglich machte. Es bleibt zweifellos
ein Unikum in der Geschichte Preußens, daß ein Minister Dinge, wie die
in Rede stehenden, nicht bei sich bewahrte, sondern sie der Öffentlichkeit zur
Entscheidung übergab, noch bevor des Monarchen definitive Stellungnahme
erkennbar geworden war. Dabei wurden zur Kaptivierung des öffentlichen
Urteils in die Angelegenheit Nebenmomente hineingetragen, die in hohem
Grade geeignet waren, das Ansehen des Kaisers zu erschüttern und den
Charakter der Kaiserin in falschem Lichte erscheinen zu lassen. Dieser ganze
Vorgang läßt die Erwartung aufkommen, es werde dem einen Differenzpunkt
rasch eine Reihe anderer nachfolgen, da sich eine Meinungsverschiedenheit von
prinzipieller Tragweite aufgetan habe, und in dieser Erkenntnis der Dinge
werde ebensowenig Fürst Bismarck in der Stimmung sein, noch länger im
Amt bleiben zu wollen, als der Kaiser geneigt sein könne, dem Willen selbst
des verdientesten Staatsmannes sich unterzuordnen."“
11. April. In Leipzig wird eine Adresse an den Reichskanzler
Fürsten Bismarck vorbereitet, in welcher der dringende Wunsch nach
seinem Verbleiben im Amt ausgesprochen wird. An der Spitze der
Bewegung steht Professor Biedermann.
Eine ähnlich lautende Bittschrift wird von Breslauer Bürgern
an den Kaiser zu richten geplant. Da dieses Vorgehen vielfachen
Widerspruch findet, so unterbleibt endlich die Absendung der Adresse.
Außerpreußische Blätter, namentlich die „Dresdener Nach-
richten“ veröffentlichen sehr heftige Artikel gegen die Kaiserin Viktoria.
Das freisinnige „Deutsche Reichsblatt“ schreibt: