Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 29.) 89
denn überhaupt eine Volksvertretung, wozu hat die letztere das Recht zu
Resolutionen, Adressen und Anträgen? Um ihr Urteil zur Kenntnis der
Krone zu bringen! Sonst wäre es niemals zu rechtfertigen, daß in einem
Verfassungsstaat dem Minister soviel Freiheit gelassen wird. Früher hatte
ein Minister einen Gnadenerlaß nie zu unterschreiben, jetzt hat er das Recht,
sich auf seine politische Verantwortung zu berufen. Dadurch wird die Macht
der Krone eingeschränkt, was niemals der Fall sein würde, wenn nicht eine
Verantwortung der Volksvertretung gegenüber vorhanden wäre. Sonst hätte
der Minister eine erhabene Stellung einerseits über der Krone, andererseits
über der Volksvertretung. Dann würden wir nicht von Hohenzollern regiert,
sondern von Ministern, ihnen gegenüber spielten dann Krone und Volksver-
tretung nur eine untergeordnete Rolle. Deshalb wollen wir die Minister
mit allen Mitteln, die uns die Verfassung gibt, zur Verantwortung ziehen!
Vom Scheinkonstitutionalismus würden wir lieber zum Absolutismus zurück-
kehren. (Am Schluß der Rede große Unruhe, beständiges Zischen rechts,
wiederholtes Bravorufen und lebhafter Beifall links.)
Zur Zurückweisung dieser Angriffe erklärt namens der freikonservativen
Partei in einer persönlichen Bemerkung Abg. Freiherr von Zedlitz: Keiner
von unserer Partei hat jemals mit den Angriffen gegen das Kaiserliche Haus
oder gegen Ihre Majestät die Kaiserin und Königin zu tun gehabt. Wer
das behauptet, ist ein frecher Verleumder!
Das Gleiche tun für die deutschkonservative Partei Abg. v. Rauch-
haupt, für die nationalliberale Abg. von Eynern.
29. Mai. (Die Paßmaßregeln an der französischen
Grenze.) Ein hochoffiziöser Artikel der „Nordd. Allg. Ztg." er-
klärt, die Paßmaßregeln an der französischen Grenze seien keine
Repressalien für bestimmte Vorgänge, sondern das Ergebnis der all-
gemeinen deutschen Politik ebenso, wie die Verstärkung der deutschen
Wehrkraft.
Sie seien vorzüglich auf das Verhältnis Deutschlands zu Elsaß-Loth-
ringen berechnet, dessen Haupthindernis die Fortdauer der sozialen und wirt-
schaftlichen Beziehungen des Reichslandes zu Frankreich sei. Die letzteren
hätten durch die fortdauernde Aufreizung antideutscher Gefühle in der reichs-
ländischen Bevölkerung von französischer Seite, durch die Vorbereitung des
Revanchekrieges zur Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens mittels Spionage
und Agitation eine weitere Verschärfung erfahren. Wie der Belforter Vor-
gang erweise, habe die feindliche Haltung der französischen Bevölkerung seit
siebzehn Jahren nicht ab-, sondern zugenommen. Die Hoffnung, daß eine
französische Regierung sich stark genug erweisen werde, diesem für den Frieden
beider Völker beunruhigenden Treiben entgegenzuwirken, habe sich bisher nicht
bewährt. Die französischen Regierungen hätten auch bei friedlicher Gesinnung
eher in der Förderung als in der Beschwichtigung des Nationalhasses eine
Stütze gefunden. Deutsche könnten nicht ohne Bedrohung von Leib und
Leben irgendwo in Frankreich erscheinen, und die Initiative einzelner Gassen-
jungen reiche hin, um bedrohliche Ausbrüche hervorzurufen. Nach dem Kriege
von 1813 bis 1815 hätte Frankreich eine weit größere Schädigung als 1870 er-
fahren, aber trotzdem suche man zehn Jahre später in den französischen Annalen
vergebens nach einem ähnlichen Hasse und einer ähnlichen Rachsucht für die
verlorenen Schlachten von Leipzig und Waterloo, wie sie sich heutzutage in
der französischen Presse und entsprechend in der Haltung der Bevölkerung
der französischen Provinzen zeige. Die Erfolglosigkeit der bisherigen Zurück-