Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

90 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni Anf.—2.) 
haltung Deutschlands und die Hoffnungslosigkeit, eine Änderung in der 
Gesinnung der Franzosen zu erreichen, errege in Deutschland keine kriegeri- 
schen Stimmungen gegen Frankreich. Deutschland treibe seine Achtung vor 
der Unabhängigkeit des Nachbars bis zur Duldung auch des ungerechtesten 
Hasses. Es wünsche keinen Krieg, sondern nur entferntere Beziehungen zu 
Frankreich. Dazu müsse es zurückhaltender im Verkehr mit Frankreich sein 
und dessen Verkehr mit Deutsch-Elaß eingeschränkt werden. Deutschland 
werde es nicht bedauern, wenn auch Frankreich Maßregeln ergreife, welche 
analog auf Enthaltung der Deutschen vom Besuche in Frankreich hinwirken. 
Deutschlands Streben sei nicht feindselig, nur ein international berechtigtes 
Mittel, um die Re-Germanisierung der deutschen Reichslande und deren Los- 
lösung von Frankreich zu fördern. Die internationalen Beziehungen würden 
durch die Friktionen des Verkehrs mit Frankreich mehr gefährdet, als durch 
schärfere Betonung der Grenze. Die Reichsregierung glaube daher dem 
Frieden einen Dienst zu erweisen, wenn sie Frankreich in dem Bestreben ent- 
gegenkomme, den Grenzverkehr genau zu kontrollieren und Friktionen nach 
Möglichkeit zu hindern. 
Anf. Juni. (Legislaturperiodengesetz.) Die von einigen 
Blättern angekündigte Publikation des Gesetzes betr. die Verlängerung 
der Legislaturperioden gibt zu den mannigfachsten Gerüchten in der 
Presse Anlaß. So bringen zum 1. Juni die „Politischen Nach- 
richten“ einen auffälligen Artikel, welcher die Nachricht, daß der 
Kaiser die Verlängerung der Legislaturperioden in Preußen geneh- 
migen werde, bezweifelt und erklärt, die Versagung der Sanktion 
würde eine erfreuliche Lösung sein, weil sie den Freisinnigen be- 
weisen würde, daß nicht das Ministerium, sondern der König in 
Preußen regiere, und daß die Minister durch Verweigerung der 
Gegenzeichnung zwar den König an etwas hindern, nicht aber ihn 
zu etwas zwingen könnten, was er nicht tun wolle. Zu gleicher 
Zeit taucht mit Bestimmtheit die Behauptung auf, daß der Kaiser 
vor einigen Tagen das Gesetz wegen Verlängerung der Legislatur- 
perioden unterzeichnet habe. 
Bald darauf weiß die „Kreuzzeitung“ zu melden — eine 
Nachricht, die von der „Post“ dem Sinne nach für richtig erklärt 
wird —, der Kaiser habe das Gesetz zwar sanktioniert, aber nachträg- 
lich die Publikation ausgesetzt, bis Minister v. Puttkamer sich über 
die Stellung der Regierung zur Freiheit der Wahlen geäußert habe. 
1. Juni. Übersiedelung Kaiser Friedrichs nach Schloß 
Friedrichskron bei Potsdam. 
2. Juni. (Maßregelung eines Lutherfestspiels.) Zum 
Besten des Lutherdenkmals in Berlin war von Studenten die Auf- 
führung des Trümpelmannschen Lutherspiels im Viktoria-Theater 
vorbereitet. Am Morgen der ersten Aufführung trifft ein Erlaß 
des Polizei-Präsidiums ein, der so eingreifende Streichungen ver-
	        
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