Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfter Jahrgang. 1889. (30)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April Mitte —Mai.) 53 
Reichsgesetzes vom 21. Oktober 1878 fallen mag, doch in der Gesamtheit der 
bisher bezeichneten Nummern der „Volkszeitung“ sozialdemokratische, auf den 
Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichtete Be— 
strebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der 
Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten. Die Kriterien des 
§ 11 des Reichsgesetzes vom 21. Oktober 1878 sind sonach durch den Ge— 
samtinhalt jener Nummern nachgewiesen und festgestellt. Es ergibt sich, wie 
auch die Verbotsverfügung vom 18. März d. J. geltend macht, daß bereits 
eine Reihe früherer Artikel der „Volkszeitung“ deutlich die Tendenz verrät, 
die bestehende monarchische Staatsordnung systematisch zu untergraben, diese 
Ausführungen auch bestimmt sind, sozialdemokratische, auf den Umsturz der 
bestehenden Staatsordnung gerichtete Bestrebungen zu fördern.“ 
Es bliebe indes die Frage zu erörtern, ob auch die Nr. 65 der 
„Volkszeitung“", welche zunächst von dem Verbot des Königlichen Polizei- 
Präsidenten betroffen worden war, und an deren Verbot sich dasjenige des 
weiteren Erscheinens des Blattes knüpfte, einen solchen Inhalt habe, daß 
darauf der § 11 des Reichsgesetzes vom 21. Oktober 1878 mit Recht ange- 
wendet werden konnte? Diese Frage sei zu verneinen. 
Es fehle namentlich gänzlich an dem nach § 11 des Reichsgesetzes 
wesentlichen Kriterium solcher Bestrebungen, daß sie in einer den öffentlichen 
Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden 
Weise zu Tage getreten seien. „Von anderen Bevölkerungsklassen ist über- 
haupt in dem Artikel nicht die Rede. Nichts deutet darauf hin, daß die 
Spitze der Bestrebungen, aus welchen der Artikel entsprungen ist, sich gegen 
eine andere Bevölkerungsklasse richte und damit den öffentlichen Frieden ge- 
fährde. Die Spitze richtet sich vielmehr augenscheinlich nur gegen die Re- 
gierung und gegen diejenigen, welche die Demokratie, insbesondere auch der 
sogenannte Freisinn, mit dem Worte „Reaktion“ zu bezeichnen pflegt. Der 
Artikel mag sonach, indem er die Revolution zu verherrlichen bestrebt ist, 
als ein revolutionärer bezeichnet werden; man kann vielleicht, wenn er den 
lebenden und toten Kämpfern des 18. März seinen Dank ausspricht, und 
dem Gefühle „der tiefsten Beschämung“ darüber Ausdruck gibt, wie wenig 
von dem, was jene Kämpfer in die Hand des Volkes legten, in dieser Hand 
geblieben ist, hierin neben der Aufstellung eines nachahmungswerten Bei- 
spiels eine verhüllte Aufforderung finden, gegebenen Falles einem solchen 
Beispiele nachzueifern, — von der Anreizung zu einem Kampfe aber für die 
Erreichung sozialdemokratischer Ziele ist in dem Artikel nirgends etwas zu 
erkennen."“ 
Mitte April— Mai. (Hofprediger Stöckers Rücktritt 
von der politischen Agitation.) Um die Mitte April wird 
den „Mecklenburger Nachrichten“ aus Berlin geschrieben: 
„Wenn in den Blättern jetzt vielfach die alte Nachricht wieder ver- 
breitet wird, daß Hofprediger Stöcker vor die Alternative gestellt sei, zu 
wählen zwischen seinem Amt als Geistlicher und der politischen Thätigkeit, 
die er bisher entwickelt hat, so ist die Notiz zwar in dieser Form nicht 
richtig und kann mit einem Scheine des Rechts dementiert werden. Im 
wesentlichen dürfte dieselbe aber doch durch kommende Ereignisse Bestätigung 
finden. — Daß es so sein könne, wurde deshalb vielfach bezweifelt, weil es 
kein Geringerer als Prinz Wilhelm gewesen war, der vor etwa drei Jahren 
das vorübergehend erschütterte Wohlwollen Kaiser Wilhelms I. zu seinem 
Hofprediger in energischer Weise wiederhergestellt und schon eingeleitete kri- 
tische Maßregeln wieder rückgängig gemacht, und weil auch Ihre Majestät 
 
	        
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