106 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (August 14.)
14. August. Der „Reichsanzeiger“ publiziert folgende Er-
klärung über die Getreidezölle.
Das Königliche Staatsministerium ist am 15. d. M. in die Beratung
darüber eingetreten, ob bei der andauernden Steigerung der Getreidepreise
eine Veranlassung gegeben sei, in der Frage der Aufhebung beziehungsweise
Ermäßigung der Getreidezölle von dem bisher eingenommenen und von dem
Ministerpräsidenten in der Sitzung des Hauses der Abgeordneten vom 1. Juni
d. J. dargelegten Standpunkte abzugeben.
Das Ergebnis der Beratung geht dahin, daß eine solche Veranlassung
nicht vorliege, daß jener Standpunkt vielmehr auch gegenwärtig festzuhalten
sei. Für diese Auffassung sind folgende Erwägungen entscheidend gewesen:
Die an das ungünstige Wetter der letzten Wochen geknüpften Be-
fürchtungen einer ungenügenden Versorgung des Landes mit Nahrungsstoffen
entbehren der hinreichenden Begründung. Wie die im verflossenen Frühjahr
laut gewordenen Besorgnisse, daß die vorhandenen Vorräte an Brotstoffen
nicht groß genug seien, um die Ernährung der Bevölkerung bis zur nächsten
Ernte sicher zu stellen, sich nicht bestätigt haben, so ist auch die damals weit
verbreitete Annahme, daß der Einfluß des außerordentlich strengen Winters
auf den Ertrag des Feldbaues ein sehr verderblicher sein werde, durch die
weitere Entwickelung der Früchte widerlegt worden. Diese Entwickelung ist,
abgesehen von eingelnen, verhältnismäßig wenig umfangreichen Distrikten,
eine über Erwarten günstige gewesen. Ebensowenig, wie damals, liegt
aber im gegenwärtigen Augenblicke, in welchem noch nicht einmal die Roggen-
ernte überall beendet ist, ein Grund vor, die Hoffnung aufzugeben, daß der
Gesamternteertrag hinter dem Durchschnittsergebnis früherer Jahre nicht zu-
rückbleiben werde. Den lauten Klagen über die Behinderung der Ernte-
arbeiten durch die Ungunst der Witterung stehen zahlreiche Meldungen über
einen reichlichen Erdrusch des eingebrachten Korns gegenüber.
Ein völlig zutreffendes Bild über den Ertrag der Ernte wird sich
erst nach ihrer Beendigung gewinnen lassen, und für die Frage, ob ein
Mangel an Nahrungsstoffen zu besorgen sei, wird insbesondere das thatsäch-
liche Ergebnis der Kartoffelernte ins Gewicht fallen. Wenn auch die bis-
herige Entwickelung der Kartoffelfrucht in manchen Gegenden durchaus nicht
befriedigt, so entbehrt doch zur Zeit die Annahme eines völlig ungenügenden
Ertrages der Begründung.
Auch das von der Keiserlich russischen Regierung erlassene Verbot
der Ausfuhr von Roggen vermag die Forderung einer Herabsetzung oder
Aufhebung der Getreidezölle nicht zu unterstützen. Als Ersatz für den Aus-
schluß russischen Roggens von den deutschen Märkten wird einerseits die
Verwendung des Weizens zur Volksernährung in erweitertem Umfange, so-
dann aber die Zufuhr von Roggen aus anderen zur Abgabe dieser Getreide-
art fähigen Ländern in Aussicht genommen werden können.
Die vielfach geforderte Aufhebung oder Herabsetzung der Getreidezölle
würde aber weiter, wenn überhaupt, bei der gegenwärtigen Höhe der Ge-
treidepreise eine merkliche Einwirkung auf den Preis des Brotes gar nicht
zu äußern vermögen.
Schon die im Frühjahr dieses Jahres gemachte Erfahrung, daß die
Erwartung einer solchen Maßregel eine Haussebewegung im Auslande her-
vorgerufen hat, läßt kaum einen Zweifel darüber, daß jede Herabminderung
der deutschen Zölle zunächst zu einer Erhöhung der Preise auf den aus-
ländischen Märkten führen wird, so daß. zumal bei der gleichzeitigen Be-
teiligung des Zwischenhandels an den Vorteilen der Maßregel, für den in-
ländischen Konsum nur ein äußerst geringer, vielleicht gar kein Nutzen er-