Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Aug. 15.—Mitte.) 107
wachsen würde. Sodann aber ermäßigt sich dieser Nutzen naturgemäß um-
somehr, je höher die Getreidepreise sind, je niedriger sich also das Verhältnis
des Zolles zu ihnen stellt.
Endlich aber kommt in Betracht, daß für Deutschland, auch wenn die
durchaus notwendige Erhaltung und Hebung der Leistungsfähigkeit der vater-
ländischen Landwirtschaft der Regierung eine sorgfältige Pflege ihrer Inter-
essen nicht in so hohem Grade, wie gegenwärtig, zur Pflicht machte, doch
angesichts der schwebenden Handelsvertrags-Verhandlungen jede Veränderung
des Getreidezolltarifs für die mit gleichem Eifer verfolgten Interessen der
einheimischen Industrie bedrohlich sein würde.
Die Regierung hält es nicht für angängig, durch eine autonome
Herabsetzung der Getreidezölle die Erfolge möglicherweise in Frage zu stellen,
welche von jenen Verhandlungen für eine fruchtbare Entwickelung der vater-
ländischen Arbeit erwartet werden dürfen.
15. August. Die Staatsregierung beschließt, infolge der durch
die nasse Witterung und das russische Ausfuhrverbot ungünstiger
gewordenen Ernteaussichten, mit einer Ermäßigung des Tarifs für
den Transport von Getreide und Mühlenfabrikate auf den Staats-
bahnen in Form von Staffeltarifen versuchsweise vorzugehen.
Mitte August. Die „Volkstribüne“ beleuchtet die Stellung
der deutschen Sozialdemokratie zum Kriege.
„Wie sich die Sozialdemokratie zum nächsten Krieg stellt“", schreibt
das sozialdemokratische Blatt, „ist eine Frage, die nicht leicht zu beantworten
ist. Wir sind natürlich prinzipielle Gegner des Krieges, in dem wir nicht
nur ein überhaupt kulturfeindliches und fortschritthemmendes Moment sehen,
sondern auch speziell ein Mittel, das Proletariat niederzuhalten. Allein in
dem besonderen Fall des nächsten Krieges kommen doch noch andere Punkte
dazu. Der Feind, welcher einer Entwickelung der Dinge in unserem Sinne
am gefährlichsten wird, ist Rußland, und bevor Rußland nicht vernichtet
ist, kann an einen Sieg unserer Ideen nicht gedacht werden. Deshalb halten
wir es noch für die Aufgabe der jetzt herrschenden Gewalten, vorerst Ruß-
land niederzuschlagen — ob das nun in einem „frivolen“ Angriffskrieg oder
in einem „sittlichen“ Verteidigungskrieg geschieht, soll uns egal sein, wenn
es nur ein erfolgreicher Krieg ist.“
Mitte August. Der freisinnige Berliner Arbeiterverein
nimmt in einer Versammlung nach einem Vortrage über „Kapital
und Arbeit“" folgende Resolution an:
„Die ungleiche Verteilung von Arbeit und Genuß ist in keiner Weise
eine gerechte und den Anschauungen einer moralisch-sittlichen Gesellschafts-
ordnung entsprechende. Sie ist ein Erbteil aus jener Zeit des Altertums,
wo ein Teil der Menschheit sich zum Herrscher über den andern aufwarf
und das Sklaventum schuf; die gegenwärtige Gesellschaft, gleichviel welcher
Regierungsform dieselbe huldigt, ist verpflichtet, diesem Uebelstand abzuhelfen
und Einrichtungen zu schaffen, nach welchem es jedem ordentlichen Menschen,
ungeachtet der Arbeit, welche er verrichtet, möglich wird, sich die notwendigen
Lebensgenüsse zu verschaffen. Die Abschaffung aller indirekten Steuern und
Zölle auf Lebensmittel, die Einführung einer nach oben sich steigernden Ein-
kommensteuer, sowie die Beseitigung der stehenden Heere sind als Anfang
zur Verwirklichung dieses Zustandes anzustreben. Endlich hält der Verein