Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

124 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Okt. 14.—21.) 
mittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der 
politischen Macht gekommen zu sein. 
Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewußten und einheitlichen 
zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen — das ist die 
Aufgabe der sozialdemokratischen Partei. 
Die Interessen der Arbeiterklasse sind in allen Ländern mit kapita- 
listischer Produktionsweise die gleichen. Mit der Ausdehnung des Weltver- 
kehrs und der Produktion für den Weltmarkt wird die Lage der Arbeiter 
eines jeden Landes immer abhängiger von der Lage der Arbeiter in den 
anderen Ländern. Die Befreiung der Arbeiterklasse ist also ein Werk, an 
dem die Arbeiter aller Kulturländer gleichmäßig beteiligt sind. In dieser 
Erkenntnis fühlt und erklärt die sozialdemokratische Partei Deutschlands sich 
eins mit den klassenbewußten Arbeitern aller übrigen Länder. 
Die sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für 
neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der 
Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche 
Pflichten Aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von 
diesen Anschauungen ausgehend bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht 
bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art 
der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine 
Partei, ein Geschlecht oder eine Race. 
Ausgehend von diesen Grundsätzen fordert die sozialdemakratische 
Partei Deutschlands zunächst: 
1) Allgemeines gleiches direktes Wahl= und Stimmrecht mit geheimer 
Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied 
des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen. Proportional-Wahl- 
system; und bis zu dessen Einführung gesetzliche Neueinteilung der Wahl- 
kreise nach jeder Volkszählung. Zweijährige Gesetzgebungsperioden. Vor- 
nahme der Wahlen und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage. Ent- 
schädigung für die gewählten Vertreter. Aufhebung jeder Beschränkung 
politischer Rechte außer im Falle der Entmündigung. 
2) Direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vorschlags- 
und Verwerfungsrechts. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volks 
in Reich, Staat, Provinz und Gemeinde. Wahl der Behörden durch das 
Volk, Verantwortlichkeit und Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuer- 
bewilligung. 
3) Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle 
der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volks- 
vertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgericht- 
lichem Wege. 
4) Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung und 
das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken. 
5) Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlicher und pri- 
vatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen. 
6) Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Auf- 
wendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. 
Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen 
zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen. 
7) Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen 
Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Ver- 
pflegung in den öffentlichen Volksschulen, sowie in den höheren Bildungs- 
anstalten für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die kraft ihrer Fähig- 
keiten zur weiteren Ausbildung geeignet erachtet werden. 
8) Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistands. Recht-
	        
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